Kaum etwas stellt unseren Begriff von Gerechtigkeit derart auf den Prüfstand wie der jüngste Sozialbericht. Die Daten sprechen eine deutliche Sprache, doch das betretene Schweigen als einzige breitere Reaktion ist beschämend.
Der erste kritische Blick gilt den Einkommen, deren Disparitäten nochmals krass zugenommen haben. Auf das Fünftel an arbeitenden Menschen mit dem niedrigsten Einkommen entfallen zwei Prozent aller Bruttobezüge, während das Fünftel mit den höchsten Gagen nahezu die Hälfte aller Salärs bezieht. Das ist grotesk, das ist unverständlich, das ist nicht in Ordnung. Hier liegt eine tiefe Missachtung einfacher menschlicher Arbeit vor, zugleich eine völlig überzogene Vorstellung davon, wie viel etwa Topmanager erhalten sollen. Ein Stundenlohn von sechs Euro mag für manche Verrichtungen, für die es weniger an jahrelangen Vorbereitungen und Selbstdisziplin bedarf, gegenwärtig ausreichend erscheinen. Aber Tätigkeiten, für die alle diese Voraussetzungen bis zur Selbstaufgabe zu erfüllen sind, mit 500.000 Euro und mehr zu entlohnen, das lässt an den Vorstellungen von Leistungs- und von Einkommensgerechtigkeit erhebliche Zweifel aufkommen. Noch dazu, wenn beispielsweise der Generaldirektor eines staatsnahen Unternehmens zu seinem Salär von nahezu einer halben Million Euro noch eine Prämie von 70.000 Euro erhalten soll.
Negative Wirkung hoher Gehälter
Eine Extraprämie, die das Jahreseinkommen durchschnittlicher Arbeitnehmer übersteigt, lässt deren Bezug als marginal, ihre Arbeit als minderwertig und ihren Selbstwert als gering erscheinen. Hier droht eine Schicht an arbeitenden Menschen wegzubrechen, innerlich zu kündigen, aus dem wettbewerbsorientierten Wirtschaftsleben rauszufallen.
Top-Bezüge wirken ja für andere nicht nur motivierend, ähnliches anzustreben, sondern können vielmehr auch eine demotivierende Wirkung entfalten. Sprich: Mancher unterlässt nötige Anstrengungen wegen Aussichtlosigkeit. Zudem lässt sich ein geringfügiges Einkommen auch aus staatlichen Beihilfen erzielen, ein kleines Zubrot vielleicht in der Nachbarschaftshilfe. Einsparungen lassen sich durch Steuerhinterziehung herstellen. Und dann gibt es noch staatliches Glücksspiel sowie Preisausschreiben aller Art, die kleine Gewinne verheißen. Wer so denkt und handelt, schadet sich selbst und erweist der ganzen Wirtschaft zumindest einen schlechten Dienst. Aber ein Wirtschaftssystem mit Disparitäten in den Einkommen wie das unsere muss mit dem Vorwurf leben, genau diese Haltung auszulösen, ja, sie zu verursachen.
Der Schleier ist zerrissen
Zu dieser fatalen Entwicklung gesellt sich noch die gegenwärtige Wirtschaftskrise. In ihren Stürmen wurde der Schleier, den der Steuer- und Wohlfahrtsstaat über Ungerechtigkeiten legt, jäh zerrissen. Jetzt ist der Blick frei auf die Spieler in den Chefetagen, auf die Steuerhinterzieher in den Konzernen, auf die Clique der Bezieher von Top-Einkommen, welche die internationale Konkurrenz unter ihresgleichen schon deswegen leben lassen, weil dies ihre Bezüge nach oben treibt. Sie sind es, die Gehaltsgrößen definieren, und zwar im eigenen Interesse, und diese damit einer öffentlichen Überprüfung entziehen. Mit der nachträglichen Empörung lässt es sich ja in ausreichender Entfernung von Kritik gut leben.
Die enorme Spanne zwischen den höchsten und den niedrigsten Bezügen vertieft neben der Kluft in der Wirtschaft auch jene in der Gesellschaft. Denn je weniger Menschen ein Arbeitseinkommen erzielen beziehungsweise je niedriger dieses ist, desto eher muss der Sozialstaat einspringen. Schon jetzt betragen die Sozialausgaben Österreichs nahezu ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts (allerdings großteils wegen der Leistungen für ältere Menschen). Sind aber Krise, Ungerechtigkeit und objektiver Unsinn die Ursache für steigende Sozialausgaben, sinkt die Bereitschaft, diese mit den Steuern zu finanzieren. Die Steuerhinterzieher und Subventionsbetrüger haben dann Saison. Die Geringverdiener verlieren die Lust an der Arbeit, die Topverdiener das Verständnis für den Sozialstaat. Das sind die fatalen Folgen der Ungerechtigkeiten in den Einkommen. Diese sind, das zeigt der Sozialbericht, abzustellen.
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