Was an der Unruhe auffällt

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Furche Nr. 26/29. Juni 1968

Unruhe an den Universitäten: Der Publizist und Rechtsphilosoph René Marcic, 1968 Professor an der Universität Salzburg, in der Furche:

1. Es sind die hellsten Köpfe, die das Wort führen.

2. Es sind reife, mündige Jungintellektuelle, von denen einige zu lang studieren; ihre Altersgenossen stehen im Beruf und tragen Verantwortung, die sie engagiert.

3. Richtig, es sind wenige unter ihnen, die Technik, Medizin, Naturwissenschaft studieren; doch nicht deshalb, weil "die anderen zuviel Zeit haben", sondern weil das Fachstudium wenig Spielraum zum freien Denken öffnet. [...] Der Naturwissenschaftler, Mediziner und Techniker, sie vergessen nur allzugern und allzuleicht, daß ihr Wirken die geordnete Lösung politischer und sozialer Probleme voraussetzt.

4. Was den Studenten bewegt, sind keine sozialökonomischen Nöte; was sie bedrängt und zum politischen Aktivismus zwingt, sind typisch denkerische, intellektuelle, geistige Probleme. [...] Und es sind echte Gewissensnöte, moralische Probleme, die den Studenten treiben. Sind sexuelle Probleme etwa keine moralischen Probleme ...? Ist die Frage einer Notstandsregelung durch die Verfassung kein schweres Kreuz für den Freistaat, den Rechtsstaat, die Demokratie? [...] Unser Überfluß, wer kann ihn ruhigen Gewissens genießen, dieweilen zwei Drittel der Menschheit hungert? [...] Ist der Vietnamkrieg nicht eine urwüchsige Gewissensfrage? Kann es noch ein bellum iustum geben? Daß dies ein Problem im technischen Zeitalter ist, wird doch niemand ernsthaft bestreiten. - Dieser, jener Interpret geht so weit, zu behaupten, daß auf solchem Umweg und insgeheim ein Prozeß läuft, der im Grunde die Welt rechristianisiert. Daniel Moynihan, usa, auf die Neue Linke zeigend: "Ich möchte sagen, daß es Christen sind ..."

5. Den Studenten mißlingt es, klar auszudrücken, was sie wollen. Schön, aber heißt es nicht: omnis definitio negatio? Und was sie nicht wollen, das ist klar.

6. Das alles stimmt jeden glücklich. [...] Sorge bereitet dies: Die Studenten zeigen, daß sie sich der Stärke ihrer Position bewußt sind, weil die Verantwortlichen sie haben zu lange warten lassen. Rudi Dutschke: "Vor zwei Jahren hätte man uns noch in den Griff bekommen!" Sie trauen keinem mehr über den Weg, wenn er die Schwelle der Dreißiger überschritten hat. Allezeit reißt der Generationenwechsel Väter und Söhne auseinander, bloß daß die Gegenwart zwischen ihnen einen Graben zieht. [...] Nichts ist, wie es war. Kernphysik, Elektronik, Kybernetik, Computer; das allgegenwärtige Ohr und Auge, denen kein Winkel verborgen bleibt; Massenmedien, Weltkommunikation, die die Erde im Nu in einen Markt verwandelt; Weltall, Bewältigung von Raum und Zeit; Biotechnik, genetische Steuerung: sie bauen eine Welt, die noch nicht ist, und sie haben eine Welt verdrängt, die nicht mehr ist, aber in den Vätern fortlebt. Das Mißverständnis ist hoffnungslos, kommt aus der Wurzel; keiner hat es verschuldet, keiner es gewollt.

Nächste Woche: E. Giscard d'Estaing 1969 über Europas Einigung.

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