Wider die Dichte der Zeit

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Mehr als tausend "Entschleuniger" haben sich im "Verein zur Verzögerung der Zeit" zusammengeschlossen.

Zeit ist Geld, sagt der Volksmund, und meint damit nichts anderes, als dass keine Zeit mehr ist, um sich "nur" auszuruhen, um einfach einmal nicht produktiv zu sein. Beruf, Familie, Hobbys, Freunde fordern ihren Tribut. Gar nichts tun? Für viele undenkbar. Wer es - nämlich nichts - dennoch tut, gilt als faul, und Müßiggang ist ja bekanntlich aller Laster Anfang.

Immer mehr Menschen merken, dass ihnen aber gerade der Müßiggang fehlt, dass ihnen alles zu schnell geht, dass man meistens Tempo meint, wenn man Zeit sagt. Mehr als tausend sind es mittlerweile, die sich organisiert dagegen wehren und sich im "Verein zur Verzögerung der Zeit" zusammengeschlossen haben. Aber gar nicht um Faulsein, nicht um Müßiggang geht es, verrät der Verein im Internet auf seiner Homepage www.zeitverein.com, sondern darum, dass "eine Gruppe von Menschen ihren Zeit-Sachverstand einbringt und an das angemessene Zeitmaß erinnert beziehungsweise eine die Eigenzeitlichkeit lebender Systeme berücksichtigende Entwicklungszeit einfordert."

Eine Solidargemeinschaft

Peter Heintel, Professor am Institut für Philosophie und Gruppendynamik an der Universität Klagenfurt, ist Gründer und Ehrenobmann des Vereins. Er sieht in der Organisation "eine Solidargemeinschaft, die denen eine Heimat gibt, die gegen die permanente Beschleunigung auftreten wollen." Heintel beschäftigt sich schon seit langem mit dem Thema Zeit. Begonnen hat er damit bereits im Gymnasium, als es ihm komisch vorkam, dass "ein Lehrer völlig gestresst hereinkam, uns die Hefte hinknallte und meinte, wir sollten einen Besinnungsaufsatz schreiben zu einem Thema wie Der Tropfen fällt auf das Blatt' oder so ähnlich. Und als man endlich ruhig wurde und angefangen hatte sich zu besinnen, war die Stunde vorbei."

Zur Zeitvereins-Gründung kam es aber erst im Jahr 1990, als ihm durch seine Tätigkeit in der Organisationsberatung, vor allem bei den Themen Konfliktmanagement und Teambildung, immer deutlicher wurde, dass es in der Wirtschaft die "bemerkenswerte Tendenz gibt, in immer kürzere Zeit immer mehr hineinzupacken, Zeit zu verdichten." Das sei in Ordnung, wo es um Maschinen gehe, aber es werde auch versucht, Lebendiges zu beschleunigen. "Und das funktioniert einfach nicht", betont Heintel im Gespräch mit der Furche. Etwa, wenn es um Teambildung geht, um Konfliktlösungen, um wichtige Entscheidungen, kann Beschleunigung unglaublichen Schaden anrichten.

Die Mitglieder des Vereins, hauptsächlich aus Österreich und Deutschland, Schweden und der Schweiz, verbindet nicht unbedingt, dass sie langsam sind. "Im Gegenteil, viele von ihnen sind - so wie ich selber es war - sogar eher zeithysterisch." Und da tue es gut, im Rahmen eines solchen Vereins immer wieder zur Entschleunigung ermahnt zu werden. Zu ihnen stoßen kann jeder, der sich verpflichtet, "innezuhalten und dort zum Nachdenken auffordert, wo blinder Aktionismus und partikuläres Interesse Scheinlösungen produziert." Wer grob gegen diese Pflicht verstößt, kann nach den Statuten ausgeschlossen werden.

Ausschluss für Beschleuniger

Der Kreis der Mitglieder spannt einen Bogen durch die meisten Alters- und Berufsgruppen: Von der 15-jährigen Schülerin bis zur 80-jährigen Rentnerin, Künstler, Schriftsteller, Politiker, Organisationsberater, Hausfrauen, Ärzte, verbindet eines: der Wunsch nach sinnvoller Entschleunigung, "Verzögerung der Zeit" eben. Erhard Busek, ehemaliger Vizekanzler und Unterrichtsminister, Regierungsbeauftragter für EU-Erweiterungsfragen und Präsident des Europäischen Forums Alpbach, ist überzeugter Zeitverzögerer. (Für ein Interview hatte er übrigens wegen seiner vielen Termine leider keine Zeit...) Auch der Politiker und Kinderbuchautor Franz-Josef Huainigg ist "Selbstmahner" im Sinne der Verzögerung.

In Workshops, Symposien und Regionaltreffen versammeln sich die Gleichgesinnten, sie forschen zum Thema, geben Expertisen ab und haben als Mitglieder Zugriff auf zahlreiche Veröffentlichungen zu dem sie verbindenden Thema.

Und bei einem Vereinstreffen kann es dann schon einmal sein, dass sich der Hamburger Pianist Uwe Kliemt ans Klavier setzt, um seinen Zuhörern zu beweisen, dass Entschleunigung allen Bereichen gut tut. Auch der klassischen Musik. Er spielt dann zum Beispiel Beethovens Mondscheinsonate. Und nimmt sich die Gestaltungsfreiheit, seine Finger viel langsamer als üblich, vielleicht sogar fast behäbig, über die Tasten gleiten zu lassen.

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