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Die Weltrevolution des Landvolkes

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Der nachstehende Aufsatz wurde kurz vor den Umbesetzungen im Kreml und vor den letzten Allianzerklärungen Moskaus an die Adresse Pekings von dem bekannten Asien- und Rußlandfachmann geschrieben. Er ist, vielleicht eben deshalb, besonders geeignet, Hintergründe aufzuzeigen, die im Westen oft wenig beachtet werden: sowohl die sowjetische wie die chinesische Revolution verdanken ihre eigentümliche Wucht einer Erhebung des Landvolkes, des unbetreuten Bauern in den riesigen Weiten und Ebenen der östlichen Länder; diese bäuerlichen Massen wurden oftmals betrogen, ja geopfert von städtischen Führern der Revolution, wurden nicht verstanden und nicht genügend gewürdigt von den intellektuellen Spitzenreitern der Revolution; diese Massen erheben aber heute in allen unentwickelten Völkern ihr Haupt: auf sie müssen die Führer des 200- und de 600-Millionen-Reiches Rücksicht nehmen, weil in ihnen die stärkste Volkskraft ihrer Länder gebunden ist, und weil Millionen von hörigen und abhängigen Bauern in Asien, Afrika, Südamerika, im Fernen und Nahen- Osten auf sie blicken. Hinter der Bolschewisierung. Mechanisierung, Industrialisierung und Bürokratisierung des Ostens steht, stärkstem Druck ausgesetzt und stärksten Druck ausübend, die Lebensnot und Lebensmacht der agrarischen Massen; die Erhebung der Bauern beginnt, in der gegenwärtigen geschichtlichen Phase der östlichen Revolutionen, diese zu unterwandern und von unten her immer entscheidender zu beeinflussen. Die eigentümliche Härte, Schwere, dai Unerbittliche, Stete der weltgeschichtlichen Umwälzungen des Ostens und Asiens stammen von diesam agrarischen Untergrund her, der wichtiger, schicksalsmächtiger als viele Einzelaktionen and singulare Ereignisse in den Führungsgruppen der östlichen Regimes ist. Die „Fufche“

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Der nachstehende Aufsatz wurde kurz vor den Umbesetzungen im Kreml und vor den letzten Allianzerklärungen Moskaus an die Adresse Pekings von dem bekannten Asien- und Rußlandfachmann geschrieben. Er ist, vielleicht eben deshalb, besonders geeignet, Hintergründe aufzuzeigen, die im Westen oft wenig beachtet werden: sowohl die sowjetische wie die chinesische Revolution verdanken ihre eigentümliche Wucht einer Erhebung des Landvolkes, des unbetreuten Bauern in den riesigen Weiten und Ebenen der östlichen Länder; diese bäuerlichen Massen wurden oftmals betrogen, ja geopfert von städtischen Führern der Revolution, wurden nicht verstanden und nicht genügend gewürdigt von den intellektuellen Spitzenreitern der Revolution; diese Massen erheben aber heute in allen unentwickelten Völkern ihr Haupt: auf sie müssen die Führer des 200- und de 600-Millionen-Reiches Rücksicht nehmen, weil in ihnen die stärkste Volkskraft ihrer Länder gebunden ist, und weil Millionen von hörigen und abhängigen Bauern in Asien, Afrika, Südamerika, im Fernen und Nahen- Osten auf sie blicken. Hinter der Bolschewisierung. Mechanisierung, Industrialisierung und Bürokratisierung des Ostens steht, stärkstem Druck ausgesetzt und stärksten Druck ausübend, die Lebensnot und Lebensmacht der agrarischen Massen; die Erhebung der Bauern beginnt, in der gegenwärtigen geschichtlichen Phase der östlichen Revolutionen, diese zu unterwandern und von unten her immer entscheidender zu beeinflussen. Die eigentümliche Härte, Schwere, dai Unerbittliche, Stete der weltgeschichtlichen Umwälzungen des Ostens und Asiens stammen von diesam agrarischen Untergrund her, der wichtiger, schicksalsmächtiger als viele Einzelaktionen and singulare Ereignisse in den Führungsgruppen der östlichen Regimes ist. Die „Fufche“

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Wer heute die Lage in der Sowjetunion aufmerksam verfolgt, der wird sich des Eindruckes nicht erwehren können, daß zwar sehr langsam, aber stetig sich sehr schwerwiegende innenpolitische Ilmschichtungen anbahnen.

Das Standardrezept zur Bewältigung innenpolitischer Schwierigkeiten war — immer schon und für alle Regierungen — ein siegreicher Krieg. Der Fall trat ein — aber die daran geknüpften Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Wirtschaftliche Konzessionen an die Bevölkerungen schienen gleichfalls Oppositionen auf lange Jahre hinaus lahmzulegen. Und schließlich sollte auch der Tod Stalins zur langsamen Auflockerung und psychologischen Normalisierung des Regimes Anlaß geben.

Aber — alles, alles kam anders.

Ohne daß sich eine wirklich bedrohliche Opposition bemerkbar machte, zeigte sich trotz allen sowjetischen Lippenbekenntnissen eine wirtschaftliche Opposition der Bauern. Im Kreml hatte man das landwirtschaftliche Problem schon lange als in den Grundzügen gelöst betrachtet. Stalin hat das wiederholt vor und nach dem Kriege erklärt. Die Industrialisierung der Sowjetunion, wobei zum Schluß die industrielle Bevölkerung der landwirtschaftlichen an Zahl gleich war, und die Kollektivisierung der Landwirtschaft schien das Baueinproblem Rußlands für immer gelöst zu haben. Steigende technische Vervollkommnung derv, Landwirtschaft, so daß das Bauerntum immer mehr Arbeitskräfte der sich entwickelnden Industrie abgeben konnte, wurde vorausgesagt. Seit ur-denklichen Zeiten waren alle Probleme der russischen Innenpolitik im Grunde genommen Bauernprobleme. Alle Revolten und Revolutionen der russischen Vergangenheit waren auf den Widerstand des Bauern gegen seine Unfreiheit und seinen Hunger zurückzuführen. Als endlich die Leibeigenschaft 1864 aufgehoben wurde, blieb der Hunger. Die befreiten Bauern erhielten ja keinen Boden als privaten Besitz, sondern die Bauerngemeinde als solche erhielt Grund und Boden zugewiesen. Die Aufteilung zwischen den immer zahlreicher werdenden Gemeindemitgliedern machte den Acker des einzelnen Bauernhofes immer kleiner. Der Landhunger des russischen Bauern war der Motor der russischen Revolution. Als jedoch der russische Bauer den ganzen Grund und Boden erhielt, da stellte es sich nach einigen Jahren heraus, daß jetzt Rußland, vor allem die Städte,vom Hungern bedroht waren. Denn es zeigte sich, daß nur der Großgrundbesitzer es war, der Getreide für den Markt, also für die Stadt und den Export produzierte. DerBauer aß sich jetzt satt, aber lieferte kein Getreide. Nicht einmal unter Zwang. Es war auch deutlich, daß Jahrzehnte nötig wären, um den Bauern von seiner extensiven rückständigen Wirtschaft zu intensiveren, modernen Produktionsformen zu bringen. Das war der eigentliche Grund der Kollektivisierung der Landwirtschaft. Der landwirtschaftliche Großbetrieb sollte in neuer, „sozialistischer Form“ wiedererstehen, fähig, sich rasch zu modernisieren und technisch zu vervollkommnen. Als im Laufe des Kampfes noch die Form gefunden wurde, den Bauern eine kleine Privatwirtschaft zu lassen, da glaubte der Kreml, das russische Agrarproblem für einige Zeit gelöst zu haben. Stalin hat es auch laut und hörbar verkündet.

Nach dem zweiten Weltkrieg tauchte jedoch beinahe unerwartet die landwirtschaftliche Krise wieder auf. Der erste Parteisekretär' Chruschtschow hat selbst von dieser landwirtschaftlichen Krise gesprochen. Jüngst, in einem Interview, leugnete Chruschtschow wieder das Bestehen einer solchen Krise. Das iswahr und unwahr zugleich. Man leidet heute in der Sowjetunion noch keine Lebensmitjelnot. Doch man konnte schon seit geraumer Zeit sehen, daß, wenn nicht drastische Maßnahmen zur Erweiterung der landwirtschaftlichen Produktion ergriffen werden, in einigen Jahren eine schwere Ernährungskrise eintreten müsse. Chruschtschow spricht auch von der Notwendigkeit, den Getreideanbau zu erweitern und vor allem den jungfräulichen Boden Westsibiriens und Kasachstans unter den Pflug zu nehmen. • . . ■

Nikita Chruschtschow leugnet auch hier, daß die Sowjetregierung die Grundsätze ihrer Wirtschaftspolitik verändert habe. Auch diese Erklärung ist wahr und unwahr zugleich. Es ist wahr, daß die Sowjetregierung vorläufig noch keinerlei grundsätzliche Konzessionen an ein Privatunternehmertum gemacht hat. Es ist wahr, daß sich bis jetzt die neuen bäuerlichen Privatwirtschaften in Asien wirtschaftlich noch nicht bemerkbar gemacht haben. Doch die Sowjetregierung hat bereits derartig große Zugeständnisse an die bäuerliche Privatwirtschaft und an den freien Handel der Kolchosen gemacht, daß die Versorgung mit Lebensmitteln der Bevölkerung heute zum großen Teil offen oder halb versteckt durch einen reinen Privatpakt erfolgt, der vom Gesetz Angebot und Nachfrage beherrscht wird, und daß auch gleichzeitig die wirtschaftliche Offensive des Bauern weitergeht, die in absehbarer Zeit große Kapitalien in bäuerliche Privathand bringen wird. Die anfänglichen Erfolge der Kollektivwirtschaft kamen nicht nur zum Stillstand. Es ■ zeigte sich mehr und mehr, daß auch die Kolchose eigentlich nur für die Selbstversorgung ihrer Mitglieder arbeitete. Mangels eines wirtschaftlichen Anreizes ließen die Bauern sogar ihre Privatwirtschaft verkümmern. Es wirkte beinahe dramatisch, als festgestellt wurde, daß der Viehbestand der Sowjetunion nicht einmal das Niveau von 1913 erreichte. 37 Jahre nach der Revolution, die angeblich alle diese Probleme gelöst hatte, war man wieder so weit wie vorher. Rußland drohte wieder das Gespenst der Knappheit, ja des Hungers. Der Regierung blieb nichts anderes übrig, als ein Rückzug vor den wirtschaftlichen Forderungen des russischen Bauern.

Es begann relativ bescheiden. Dem Bauern wurden zahlreiche Erleichterungen für seine Privatwirtschaft angeboten: Kredite für den Viehahkauf, Steuerermäßigungen, technische Beihilfe des Staates. Man hoffte, auf diese Weise, wenigstens vorübergehend bis zur Um-organisation der Kolchose, die Lebensmittelproduktion zu erhöhen. Doch auch für die Kolchose mußte etwas geschehen. Dem landwirtschaftlichen Sektor der Wirtschaft wurden jetzt größere Staatsmittel zugeführt. Die Abnahmepreise des Staates für landwirtschaftliche Produkte wurden erhöht, bei gleichbleibenden Preisen für Industrieprodukte: Das war die erste einschneidende Maßnahme, die sich inzwischen auch politisch ausgewirkt hat.

Das ganze Sowjetsystem beruht wirtschaftlich eigentlich auf der sogenannten Preisschere, auf den, im Verhältnis zur Zeit vor der Revolution, hohen Preisen für Irtdustrieprodukte und den niedrigen Preisen für die Erzeugnisse der Landwirtschaft. Diese Preisschere ermöglicht es dem Staat, das Kapital in seiner Hand zu akkumulieren, das er für die schnelle Industrialisierung des Landes benötigte. Diese Preisschere bestimmte auch den Charakter der Union als industriellen und proletarischen Staat. Das Zusammenrücken der Preisschere zeigt jetzt an, daß das innenpolitische Schwergewicht sich zugunsten der Bauern zu verschieheh beginnt. Damit nicht genug, muß man den Bauern noch Geschenke machen, zum Beispiel in Form langfristiger Individualkredite zum Bau neuer Wohnhäuser. Alles das war jedoch nicht ausreichend. Es'stellte' sich die gebieterische Forderung einer gewaltigen Ausweitung der Anbaufläche, um die Ernährung der heutigen Bevölkerung der Sowjetunion zu sichern. Die Erweiterung des Bodenbesitzes der Kolchosen genügte hier nicht. So mußte die Sowjetregierung zu denselben Maßnahmen greifen wie einst die kaiserlichen Regierungen — zu einer inneren Kolonisation. Nur: in weit größerem Umfange, als es einst die zaristischen Regierungen getan hatten. Allen denen, die bereit sind, in die Landwirtschaft zurückzukehren, wurden große materielle Vorteile versprochen. Wie einst soll die landwirtschaftliche Besiedelung der asiatischen Weiten, die Urbarmachung weiter Gebiete durch eine freiwillige Umsiedlung erreicht werden. 20.000 Rubel in bar, fünf Jahre Steuerfreiheit, unentgeltliche Lieferung von Material,Maschinen und Geräten wird als Anreiz geboten. Die Kolonisten können nach eigenem Ermessen sich in Kolchosen zusammentun oder auch einzeln siedeln.

Das ist die zweite einschneidende Maßnahme. Es sind noch keine zwanzig Jahre her, da wurden Rekrutierungsbevollmächtigte in die Dorfer entsandt, welche die Aufgabe hatten, Arbeiter für die Industrie zu werben. Den Kolchosen wurde die Verpflichtung auferlegt, einen Teil ihrer Mitglieder beinahe zwangsweise an die Industrie abzugeben. Mit aller Beschleunigung sollte aus dem dörflichen-agrarischen Rußland ein industrielles und städtisches geschaffen werden. Nach dem Kriege verkündete Stalin, daß die Industrialisierung der Landwirtschaft und die Schaffung städtischer Lebensverhältnisse auf dem Dorfe die nächste Aufgabe sei. Und nun die rückläufige Entwicklung.

Die Sowjetunion verfügt über eine große Erfahrung im Manövrieren Die Totalität des Staates erleichtert auch manche Aufgabe. Trotzdem wäre es ein Wunder, wenn diese schnell fortschreitende Umkehrung der ganzen wirtschaftlichen und sozialen Grundlage des Sowjetstaates nicht früher oder später ihre politischen Folgen zeitigen würde. Auf die Dauer wird sich nämlich die Industrie und die bis jetzt wenigstens moralisch bevorzugte Arbeiterschaft diese Umkehr der Verhältnisse nicht gefallen lassen. Anderseits wächst der wirtschaftliche und damit politische Appetit der Bauern. Das Gefährliche für das Regime ist. daß es in der Sowjetunion eigentlich keine Opposition mehr außerhalb der Partei gibt. Es wäre verhältnismäßig leicht, eine solche gegen den Sowjetstaat gerichtete Bewegung zu zerschlagen. Die Erfahrungen zeigen aber, wie schon gesagt, daß sich jeder Gärungsprozeß in den russischen Massen, jeder Klassen- oder Interessenkampf in der einzigen Partei selbst widerspiegelt. Es liegt also immer die Gefahr vor, daß erbitterte Oppositionskämpfe in der Partei selbst ausbrechen. Dabei besteht immer wieder die Möglichkeit, daß es einmal doch zur Spaltung der Partei und damit zum Verlust des Machtmonopols dieser Partei kommt.

Das weiß man natürlich im Kreml. Daher sind alle, vorerst nur leisen Versuche, das geistige Leben in der Sowjetunion liberaler zu gestalten und damit zu beleben, eingestellt worden. Vorsichtig werden die Schrauben der Diktatur, in Erwartung kommender Stürme,' wieder fester angezogen.

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