San

Journalistin aus Namibia zum Begriff "Globaler Süden": Die Grenzen der Semantik

19451960198020002020

Der Begriff „Globaler Süden“ führt in die Irre, sagt Journalistin Sonja Smith. Tatsächlich ginge es um Regionen der manifestierten Ungleichheit. Ein Appell.

19451960198020002020

Der Begriff „Globaler Süden“ führt in die Irre, sagt Journalistin Sonja Smith. Tatsächlich ginge es um Regionen der manifestierten Ungleichheit. Ein Appell.

Werbung
Werbung
Werbung

Xhuka Shorty ist ein Angehöriger des indigenen San-Volkes. Vor acht Jahren wurden er und 16 Mitglieder seiner Familie gewaltsam von dem Ackerland vertrieben, auf dem und von dem sie seit Generationen gelebt hatten. Die Familie lebt nun von Shortys monatlicher Rente – umgerechnet 87 US-Dollar im Monat. Ihr Zuhause ist nun der Schatten eines Baumes im Dorf Katumba, im Nordwesten des Landes. Ein Dach über dem Kopf haben sie nicht.

Shortys Geschichte ist keine Ausnahme in Namibia – einem Staat, in dem ausländische Interessen, vorwiegend aus dem Globalen Norden, immer noch das fruchtbare Ackerland kontrollieren und indigene Gemeinschaften vertrieben und mittellos zurückgelassen werden. Wie viele Länder im Globalen Süden kämpft Namibia mit einer schweren Immobilienkrise. Ein gewaltiger Rückstand von 300.000 Wohneinheiten steht im Gegensatz zu einer Bevölkerung von 2,6 Millionen Menschen. Der jüngst publizierte Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) über Namibia untermauert dieses düstere Bild: 43 Prozent der Bevölkerung leiden unter multidimensionaler Armut; die Arbeitslosenquote liegt bei 33,4 Prozent, wobei die Jugend, deren Arbeitslosigkeit auf 50 Prozent gestiegen ist, die Hauptlast dieser Krise trägt.

„Kulturelle Störungen“ und Kolonalisierung

Der Begriff „Globaler Süden“ ist ein allzu breiter Pinselstrich, der versucht, die wirtschaftlichen Ungleichheiten zu erfassen, denen Länder in Afrika, Lateinamerika, Asien und Ozeanien ausgesetzt sind. Doch ich will ehrlich sein: Die Terminologie gilt es durchaus auch kritisch zu betrachten. Denn die Realität des Lebens im Schatten eines Baumes sprengt die Grenzen der globalen Semantik.

Die Geschichte Namibias ist, wie die vieler Länder im Globalen Süden, vom Erbe der Kolonialisierung geprägt. Der europäische Imperialismus hinterließ bleibende Narben und setzte wirtschaftliche Ausbeutung und kulturelle Zerrüttung fort. Der Begriff „Globaler Süden“ kann die unterschiedlichen Kulturen, Volkswirtschaften und Herausforderungen, mit denen die Länder in diesen Regionen konfrontiert sind, manchmal zu stark vereinfachen. Namibia selbst verfügt über eine reiche Vielfalt an Kulturen mit mindestens elf verschiedenen ethnischen Gruppen, sodass es unmöglich ist, seine Komplexität unter einem einzigen Begriff zusammenzufassen. Wie sollte ein einziges Wort die Vielfältigkeit all dieser Länder abbilden? Vielmehr führt diese Vorgangsweise in die Irre.

Standbild Navigator - © Foto: Die Furche

Liebe Leserin, lieber Leser,

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. ImFURCHE‐Navigatorfinden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Siehier zu Ihrem Abo– gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

Liebe Leserin, lieber Leser,

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. ImFURCHE‐Navigatorfinden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Siehier zu Ihrem Abo– gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

Die Auswirkungen der Kolonialisierung und die damit einhergehende wirtschaftliche Ausbeutung sowie die „kulturellen Störungen“ beeinträchtigen Nationen des sogenannten Globalen Südens wie Nambia bis heute erheblich. Und das wiederum fehlt bei der Debatte, wenn Externe die Probleme in unseren Ländern beschreiben wollen. Interessiert verfolge ich – als Angehörige des Globalen Südens und externe Beobachterin des Globalen Nordens – auch Debatten über „Erste-Welt-Themen“, wie wir sie nennen. Auch wir hätten gerne den Luxus, über Feminismus und Wokeness intensiver nachzudenken. Aber die Realität ist: Wer sich darauf konzentrieren möchte, muss sich zumindest dessen sicher sein, dass die eigenen Grundbedürfnisse und jene seiner Familie gestillt sind. Tatsächlich konzentrieren sich die Gespräche und die Aufmerksamkeit in Namibia und einem Großteil des Globalen Südens immer noch sehr darauf, woher wir unsere nächste Mahlzeit hernehmen und ob wir genügend Geld aufbringen können, um ein besseres Leben aufzubauen.

Ich verfolge interessiert Debatten über ,Erste-Welt Themen‘. Wir hätten gerne den Luxus, über Feminismus und Wokeness intensiver nachzudenken.

Gleichzeitig stehen Vorurteile in Bezug auf Hautfarbe, Ethnie, Religion, Geschlecht oder sexuelle Orientierung auf der Tagesordnung. So kämpft Namibia trotz jüngster rechtlicher Fortschritte für das „Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe“ und den Zugang zu Abtreibungen. Die aktuelle Gesetzgebung stammt aus der Zeit der Apartheid in Südafrika und erlaubt Abtreibungen nur unter bestimmten Umständen wie Vergewaltigung, Inzest oder wenn der Fötus das Leben der Frau gefährdet. Infolgedessen hört man Tag für Tag Horrorgeschichten, in denen es um Frauen geht, die versuchen, ihre eigene Schwangerschaft zu beenden, oder um Babys, die nach der Geburt ausgesetzt werden. Oder noch Schlimmeres. Dieses Klima der Widrigkeiten führt dazu, dass Einzelpersonen und Familien außerhalb des Landes ihr Glück suchen. Verständlicherweise, will ich meinen. Der Reiz des Globalen Nordens mit seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten und relativ stabilen Lebensbedingungen lockt Millionen Menschen aus dem Globalen Süden an. Diese Migration ist nicht nur ein Fluchtversuch; es ist das Streben nach einem besseren Leben, ein grundlegendes menschliches Streben. Xhuka Shortys Geschichte ist zwar herzzerreißend, aber ich möchte ihn als Aufruf zum Handeln verstehen. Die Geschichten von Shorty und Millionen wie ihm müssen als Katalysator für Veränderung dienen und uns dazu inspirieren, unermüdlich zu arbeiten, bis der Tag erreicht ist, an dem der Begriff „Globaler Süden“ nicht mehr Kampf, sondern Widerstandsfähigkeit und Triumph bedeutet. Der Begriff „Globaler Süden“ bleibt trotz seiner Einschränkungen ein Symbol der Hoffnung.

Smith

Sonja Smith

Die Autorin ist eine vielfach ausgezeichnete Journalistin aus Namibia und publizierte unter anderen für Medien wie den Confidente, den Windhoek Observer und The Namibian .

Navigator

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung