Haiti

Literatur aus Haiti: Die Revolution als Theater

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„Der Tanz auf dem Vulkan“ spielt im Haiti des 18. Jahrhunderts und thematisiert Diskriminierung und Unterdrückung. Über die literarische Versinnbildlichung eines Konflikts.

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„Der Tanz auf dem Vulkan“ spielt im Haiti des 18. Jahrhunderts und thematisiert Diskriminierung und Unterdrückung. Über die literarische Versinnbildlichung eines Konflikts.

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Es könnte der Plot eines Kitschromans sein. Eine wohlhabende Sängerin hört Minette und ihre kleine Schwester Lise, zwei junge Mädchen aus dem Armenviertel, regelmäßig singen und ist so begeistert von ihren Stimmen, dass sie die beiden zu sich einlädt, um sie zu unterrichten.

Vor allem Minettes Stimme ist so außergewöhnlich, dass es Madame Acquaire gelingt, sie am städtischen Theater unterzubringen, wo sie berauschende Erfolge feiert. Was nach einer recht banalen Aufsteigerinnengeschichte klingt, ändert sich sofort, wenn man weiß, dass der Roman im Haiti des 18. Jahrhunderts spielt und Minette eine Affranchie ist, eine freie Person of Color, die aufgrund ihrer Hautfarbe im Schauspielhaus gar nicht auftreten dürfte. Ihr Vater war ein reicher weißer Sklavenhalter, der ihre Mutter Jasmin, eine Sklavin, vergewaltigt hatte. Dass der Star des Abends nicht weiß ist, verschleiert Madame Acquaire bis zum Schluss. Nur ihre das Publikum verzaubernde Stimme schützt Minette später vor Konsequenzen.

Trotz ihres Erfolgs nennt man ihren Namen nicht, sie bleibt „die Person“, auch die rauschenden Bälle nach den Vorstellungen bleiben ihr verwehrt, und bezahlt wird sie selbstredend nicht. Das ist die Ausgangslage von Marie Vieux-Chauvets 1957 auf französisch publiziertem Roman „Der Tanz auf dem Vulkan“, der jetzt erstmals bei Manesse in der Übersetzung von Nathalie Lemmens auf Deutsch erscheint.

Nachfahren freigelassener Sklaven

Die Geschichte Minettes hat einen wahren Kern. Die Autorin bezieht sich auf die theatergeschichtliche Forschung des Historikers Jean Fouchard, bei dem die zwei singenden Schwestern aus Port-au-Prince belegt sind. Um diese Fakten herum baut die bis heute bekannteste Autorin Haitis eine epische Geschichte, deren Bedeutung weit über die Grenzen des Karibikstaats hinausreicht. Ausgehend vom Schauspielhaus in Port-au-Prince im Jahr 1792 erzählt VieuxChauvet von der sozialen Ungerechtigkeit, der brutalen Gewalt an Frauen und Schwarzen vor dem Hintergrund der sich anbahnenden Revolution. Dass sie als Hauptfigur eine Affranchie wählt, ist bezeichnend. Es ist eine Figur der Mitte: Als Affranchie bezeichnete man die Nachfahren frei gelassener Sklavinnen und Sklaven, meist ethnisch gemischt, die zumindest theoretisch frei waren und ähnliche Rechte wie die Weißen besaßen.

Die weißen Besitzlosen kämpfen gegen die Grundbesitzer, die Kreolen gegen die Königstreuen, die ,Affranchies‘ fürchten um ihre Rechte.

Race (der Begriff Rasse wird aufgrund der anderen Konnotation im Deutschen vermieden) ist bei Vieux Chauvet kein starres, eindeutiges System, sondern ein Spektrum, das eng mit anderen Faktoren verknüpft ist. Was man heute Intersektionalität nennt, also die Überschneidung verschiedener Diskriminierungskategorien und Unterdrückungsmechanismen, erzählt Vieux-Chauvet spielerisch über ihr umfangreiches Figurenensemble. Aus den sozial so unterschiedlichen Figuren entwirft die Autorin das Bild einer sehr differenzierten, komplexen Gesellschaft, in der Klasse und Geschlecht eine mindestens so große Rolle spielen wie die ethnische Herkunft. Es gibt reiche und arme Weiße, rechtelose Sklaven, die wie Vieh behandelt werden, Sklaven, die jahrelang wie Familienmitglieder behandelt werden, um dann, wenn es die Finanzen erfordern oder ihre Arbeitskraft nachlässt, auf dem Markt verhökert zu werden.

Tochter einer misshandelten Sklavin

Minette ist die gegen Sklaverei aufbegehrende Tochter einer misshandelten Sklavin. Dass sie selbst blond und so hellhäutig ist, dass sie als Weiße durchgehen könnte, bringt ihr in Haiti nichts. Hier ist man auf kleinste Zeichen sensibilisiert; jeden sofort ethnisch-sozial einzuordnen, gehört zum Alltag. Ihrer Darstellung eines komplexen Systems entspricht auch Vieux-Chauvets Weigerung, einfache moralische Linien zu ziehen. So ist Minettes große Liebe Jean-Baptiste Lapointe ein dunkelhäutiger Affranchie, der selbst Sklaven hält und dabei um keinen Deut besser agiert als weiße Sklavenhalter. Gleichzeitig kämpft er gegen die Vorherrschaft der Weißen.

Minette ist quasi die Versinnbildlichung der Konflikte Haitis. Sie kämpft gegen sie an, hat sie aber auch internalisiert. Als Frau und Affranchie setzt sie durch, dass sie am Schauspielhaus bezahlt wird. Sie verweigert sich einem System, in dem der Körper der Frau eine Ware ist. Sie liebt Lapointe, doch die Misshandlung seiner Sklaven führt dazu, dass sie sich von ihm abwendet. Sie will Teil des Systems sein, um es von innen heraus zu ändern, doch nicht um jeden Preis.

Diese persönlichen Konflikte verknüpft Vieux-Chauvet mit den historischen Dynamiken. Es gibt kaum eine ruhige Sekunde in diesem Roman, im Hintergrund brodelt es ständig, Sklaven fliehen und werden zu Tode gehetzt, Aufständische werden brutal gefoltert und hingerichtet. Am Ende lässt Vieux-Chauvet den titelgebenden Vulkan in einem atemberaubenden Finale ausbrechen. Die Revolution ist zunächst kein Kampf der Sklaven gegen ihre Unterdrücker, sondern ein Kampf verschiedenster Gruppierungen gegeneinander. Die weißen Besitzlosen kämpfen gegen die Grundbesitzer, die Kreolen gegen die Königstreuen, die Affranchies fürchten um ihre hart erkämpften Rechte. 1804 wird Haiti der erste Staat sein, der sich von der Sklaverei befreit und unabhängig wird.

Vieux-Chauvet lässt den Roman schon vorher in der Katastrophe enden. Das passt auch zu ihrer eigenen Biografie. Autorin schrieb gegen Diktatur an Marie Vieux-Chauvet wurde 1916 in das von den Amerikanern besetzte Haiti geboren. Später schrieb sie gegen die Diktatur François „Papa Doc“ Duvaliers an, weshalb sie Ende der 1960er Jahre ins Exil nach New York gehen musste, wo sie 1973 an einem Gehirntumor starb. Simone de Beauvoir ebnete ihr den Weg auf den französischen Literaturmarkt, wo ihr Werk beim renommierten Verlag Gallimard publiziert wurde. Dass sich mit Manesse endlich ein deutschsprachiger Verlag dem Werk der hier nahezu unbekannten haitianischen Autorin annimmt, ist ein großer Gewinn für ein deutschsprachiges Publikum. 2002 erschien der nicht weniger beeindruckende Roman „Töchter Haitis“. Nicht nur literarisch sind Vieux-Chauvets Romane immer noch lesenswert. Leider sind sie auch im Hinblick auf politische und soziale Unterdrückungsmechanismen hochaktuell.

Tanz auf dem Vulkan
Der Tanz auf dem Vulkan

Roman
Von Marie Vieux-Chauvet
Übersetzt von Nathalie Lemmens
Manesse 2023
485 S.,
geb., € 29,50

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