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Lunik und Muschik

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So großartig der Abschuß der Mondrakete als technisch-wissenschaftliches Phänomen auch ist, auf das russische Leben selbst, auf den russischen Alltag hat dies keinerlei Einfluß. Das russische Dorf scheint in der westlichen Berichterstattung so gut wie gar nicht auf. Zwar ist es wohl richtig, daß durch die Sowjets Rußland aus einem reinen Agrarstaat zu einem großen Industrie- und Agrarstaat gemacht worden ist. Auch statistisch bildet die in der Landwirtschaft beschäftigte Bevölkerung immer noch etwas mehr als die Hälfte der Sowjetbürger. So ist die Bedeutung der ländlichen Bevölkerung in der Sowjetunion eine gewaltige. Denn die russische Landwirtschaft versorgt mehr als zweihundert Millionen Menschen, die unmöglich durch Importe ernährt werden können. Sie hat darum ständig ihre Hand am Hals des Sowjetsystems. Mehr als neunzig Prozent der heutigen Stadt- und Industriebevölkerung in der Sowjetunion waren noch entweder selbst Bauern oder sind unmittelbare Nachkommen von Bauern. Weit mehr als die Hälfte der heutigen Moskauer Bevölkerung z. B. ist auf dem Lande geboren worden. Auch die Spitzen des heutigen Sowjetstaates, wie z. B. Chruschtschow, Koslow, Krusnjetzow u. a. sind Söhne von Bauern. In der heutigen sowjetischen Lebensform, im Denken, im künstlerischen Geschmack scheint das Bäuerliche stärker durch, als dies jemals in der russischen Geschichte der Fall gewesen ist. Das russische Dorf bestimmt noch immer das Schicksal Rußlands, und. die, Veränderungen, die daselbst vor sich gehen, haben darum weltpolitische Bedeutung.

Es gilt vor allem, viele falsche Vorstellungen des Westens über den russischen Bauern richtigzustellen. Einen Bauern im westlichen Sinn hatte es im Osten nie gegeben. Der Versuch des Ministerpräsidenten Stolipin, im Jahre 1907 einen Bauernstand nach westlicher Art auf russischem Boden zu schaffen, ist kläglich mißlungen. Auf eigener Scholle saß der russische Bauer eigentlich nie. Man darf nie vergessen, daß es noch keine hundert Jahre her ist, daß all diese Bauern, die Vorfahren Chruschtschows und Kromykos, noch Leibeigene waren. Erst 1864 ist in Rußland die Leibeigenschaft aufgehoben worden. Auch darnach war der russische Bauer keineswegs ganz frei. Er blieb an seine Bauerngemeinde gebunden.

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Wenn wir die Zeit der Revolution überspringen, so müssen wir heute etwas sehr Bezeichnendes feststellen. Zwei Wörter des russischen Sprachschatzes, oft gebraucht, sind aus Literatur und Umgangssprache völlig verschwunden. Offiziell und amtlich war die Bezeichnung „Krestianin“, d. h. Christenmensch. So nannte der Bauer sich auch selbst. Außerdem war die weitverbreitete Bezeichnung „Muschik“, früher harmlos, später ein Schimpfwort. Beide Ausdrücke sind verschwunden. Jetzt wird nur noch der Name „Kolchosnik“ gebraucht. Es würde zu weit führen, wollte man das Schicksal des russischen Bauern in der Revolution schildern. Tatsache ist, daß der Bauer die Revolution gemacht hat und immer wieder sehr zäh und mit vielen blutigen Opfern um seine Interessen gekämpft hat. Immer wieder mußte auch das Sowjetregime nachgeben oder eine Form der Politik finden, die auch dem Bauern genehm war. Auch heute versucht Chruschtschow, seine Ziele dadurch zu erreichen, daß er der ländlichen Bevölkerung immer wieder entgegenkommt. Der russische Bauer bezahlte während der Revolution einen ungeheuren Blutzoll. Schon während des Bürgerkrieges, wo er oft nach beiden Seiten hin kämpfte, ge.“en die Weißen, die den Großgrundbesitz wieder einführen wollten, oft auch gegen die Roten, die ihm seinen letzten Sack Getreide gewaltsam wegnahmen. Furchtbar wurde die bäuerliche Bevölkerung bei der Kollektivierung der Landwirtschaft dezimiert. Doch im letzten Krieg und seither hat sich vieles gewandelt.

Besonders in den letzten sechs Jahren verläuft die Entwicklung äußerst interessant und verändert das russische Dorf vollständig. Es begann mit der Ermäßigung der Steuer sowohl für die Kolchose als auch für den einzelnen Bauern. Dann wurden die Preise für die Pflichtlieferungen an den Staat stark hinaufgesetzt. Endlich wurde die Pflichtablieferung vollständig aufgehoben. Den Abschluß erreichte die Entwicklung durch die Auflösung der staatlichen Maschinen- und Traktorenstationen. Auch wenn die einzelnen Kolchosen den Maschinenpark nicht kauften, so verschwanden auf jeden Fall die Zwingburgen des Staates mit ihren Kontrollorganen in politischer und wirtschaftlicher Beziehung. Natürlich fielen damit auch die Pachtgebühren und andere Leistungen an die staatlichen Stationen weg, und die Kolchosen begannen zunehmend Kapital zu akkumulieren. Parallel damit ging die Vereinigung der schwachen Kolchosen zu größeren Genossenschaften. Im gleichen Maße nahm die wirtschaftliche Selbständigkeit der Kolchosen zu. Hatte die Opposition gegen Chruschtschow von diesen Reformen den Untergang des Sowjetstaates befürchtet, so trat merkwürdigerweise das Gegenteil ein: Die Landwirtschaft näherte sich in ihrer Struktur von selbst der verstaatlichten Industrie. Der Grund liegt darin, daß es dem Staat gelungen ist, den Markt zu beherrschen. Die Kolchosenmärkte änderten sich. Der Einzelbauer bietet hier nicht mehr seine Produkte an. Es jst jetzt einfach eine Form des staatlichen und genossenschaftlichen Handels. Die Preise auf diesem sogenannten freien Markt und in den Läden differieren nur wenig. Als sich Stalin 1934 mit den Bauern aussöhnte, hat er dies durch ein doppeltes Zugeständnis erreicht: Der Bauer erhielt seinen Arbeitsanteil an der Kolchose nicht in Geld, wofür er damals nichts kaufen konnte, sondern in natura. Den Ueberschuß, den er nach dem eigenen Verbrauch noch besaß, konnte er auf dem Kolchosenmarkt günstig verkaufen. Das zweite Zugeständnis war das eigene Haus, der Hof, eine Acker- oder Gartenparzelle und ein kleiner, privater Viehbestand. Jetzt beliefert die Kolchose den einzelnen Bauern immer mehr mit den notwendigen Lebensmitteln. Die Preisdifferenz auf dem Kolchosenmarkt ist verschwunden, und die Kolchosen sind gerne bereit, den privaten Viehbestand des Bauern anzukaufen. Langsam, aber doch nach und nach, verschwinden so der private Viehbestand und die privaten Aecker. Auch legt der Bauer keinen Wert mehr darauf, von der Kolchose seine Entlohnung in natura zu erhalten und dann zu verkaufen. Eine Kolchose nach der anderen geht jetzt auf Wunsch der Mitglieder dazu über, die Arbeit gegen einen festen Barlohn zu vergüten. Damit ist eine tiefgreifende Revolution im Dorf eingeleitet. — Die jahrhundertealte Naturalwirtschaft des russischen Dorfes ist im Verschwinden.

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Seit der Revolution hat sich das Leben im russischen Dorf stetig verändert. Jetzt geht dieser Prozeß geradezu stürmisch weiter. Die Revolution hatte zunächst einmal das dörfliche Handwerk vernichtet und das Heimgewerbe. Obwohl nach dem Bürgerkrieg der Staat versuchte, in Form von Produktionsgenossenschaften dieses Handwerk wieder zu beleben, blieb es doch weit hinter der vorrevolutionären Zeit zurück. Die Vernichtung des dörflichen Handwerkes ist übrigens auch einer der Gründe des chronischen Mangels an Gebrauchsgegenständen. Denn 90 Prozent der alten russischen Bevölkerung fabrizierten diese Gegenstände selbst oder kauften sie beim dörflichen Handwerker. So rasch konnte eine Industrie auch innerhalb Jahrzehnten nicht aufgebaut werden. In Rostow am Don mußte z. B. der Staat eine große Fabrik bauen, die Bauernwagen produzierte, während früher der Bauer seinen Wagen selbst machte.

Der erste Weltkrieg und der Bürgerkrieg vernichteten die Spinnräder. Auch das Dorf kleidete sich in alte Soldatenuniformen. Aller'ings begann in den zwanziger Jahren der bäuerliche Bastschuh wieder aufzuleben und wurde sogar zeitweise genossenschaftlich produziert und billig auf den Markt gebracht. Als in den dreißiger Jahren die hungernden Bauern in die Städte, strömten, sah man noch einzelne Figuren in den braunen Röcken aus selbstgemachtem Tuch, sah mäfi“nddi d% ntifScrinül'erf'z'üs'ammehgehältenen Fußlappen, den Bastschuh und die charakteristische Bauernmütze aus Filz. Auch die bäuerliche Frisur war noch vorhanden, die im alten Rußland als Nationalfrisur galt. Sie entstand sehr einfach: die Bäuerin setzte ihrem Mann und ihren Söhnen einen Topf auf den Kopf und schnitt das Haar dem Rande nach ab. Es gibt auch heute noch in Rußland zahlreiche strohgedeckte Häuser. Die bäuerliche Tracht aber verschwand vollständig und wird heute nur, ganz anders als früher, bunt und farbig, an bestimmten Festtagen als Landestracht getragen. Seit der Kollektivisierung veränderte sich auch das Leben im Dorf. Die 1912 beschlossene allgemeine Schulpflicht wurde praktisch erst nach der Kollektivierung durchgeführt. Zuerst zog also die Schule ins Dorf und mit ihr das Lehrpersonal, dann kam die Sanitätsstation mit Heilgehilfen und Schwester. In die Kolchosen kamen Buchhalter, Techniker, Agronomen. Besaß früher nur das Kirchdorf eine schwache Gruppe von Dorfintelligenz, so jetzt jedes Dorf. Diese Dorfintelligenz veränderte immer mehr das Leben ihrer Mitbewohner. Neue Lebensformen entstanden. Kinderkrippen wurden geschaffen, zuerst primitive, aber für die Bauern war es etwas ganz Neues. Dann kamen Klubs und Bibliotheken. Städtische Gebäude wurden errichtet. Wandertheater und Kinos gaben gelegentlich Vorstellungen. Vereine wurden organisiert. Das Dorf nimmt also immer mehr ein städtisches Gepräge an. Kleidung und Speisekarte, Lebensart und Lebensform unterscheiden es immer weniger von der Stadt. Man muß den positiven Aspekt dieser Entwicklung nicht ausschließlich auf den Kommunismus zurückführen. Diese Entwicklung darf füglich ebensosehr als Europäisierung des russischen Dorfes bezeichnet werden. Die Entwicklung, die in Mittel- und Westeuropa im letzten Jahrhundert vor sich ging, spielt sich eben jetzt im bisher zurückgebliebenen russischen Dorf ab.

Das alles verändert natürlich wesentlich auch die menschliche Mentalität. Immer mehr verschwindet der Typ des gedrückten und geduldigen Bauern. Die ländliche Bevölkerung wird immer selbständiger und selbstbewußter. Wenn heute noch Chruschtschow diese Entwicklung begrüßt, so kann morgen schon auf Grund politischer und wirtschaftlicher Forderungen dasselbe Dorf zu einem schweren Problem für den Einparteistaat werden.

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