Serbien - © Foto: PIXSELL / EXPA / picturedesk.com

Massenmorde in Serbien: Raus aus den Albträumen

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Massenmorde haben Serbien erschüttert. Zehntausende protestieren nun gegen das Panoptikum aus Gewalt und Autokratie. Warum damit auch die Hoffnung zurückkehrt. Ein Essay.

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Massenmorde haben Serbien erschüttert. Zehntausende protestieren nun gegen das Panoptikum aus Gewalt und Autokratie. Warum damit auch die Hoffnung zurückkehrt. Ein Essay.

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Am Morgen des 3. Mai spazierte ein 13-jähriger Schüler im Stadtteil Vračar in der serbischen Hauptstadt Belgrad bewaffnet in seine eigene Schule und tötete neun Mitschüler und den Schulwächter. Keine 24 Stunden später schoss ein junger Mann wahllos auf junge Menschen in der Nähe von Belgrad und tötete acht Menschen. Mit einem Schlag wachte Serbien in einem realen Albtraum voller Gewalt auf. Während Menschen unter Schock standen, offenbarte das Regime von Aleksandar Vučić sein wahres Gesicht. Während die Polizei und Behörden Fehler machten und fast nebenbei die Privatsphäre der Täter und Opfer verletzten, schwang er sich wie gewohnt zum obersten Richter der Nation auf.

Mit pathetischer Miene dozierte er über das Privatleben der Täter und ihre Motive, sinnierte über die Wiedereinführung der Todesstrafe für „Monster“ und versprach, Serbien mit repressiven Maßnahmen von Gewalt zu befreien. Das klang wie ein böses und surreales Omen – ausgerechnet Vučić, dessen Regime nahezu in Dauerschleife Kriegstrommeln in Bezug auf den Kosovo rührte, verurteilte Kriegsverbrecher verherrlichte und die Boulevardmedien orchestrierte, die den gesamten öffentlichen Diskurs brutalisierten und vergifteten, soll nun die Gewalt in Serbien aus der Welt schaffen.

Überwachungsgesellschaft

Jeremy Bentham, eine der fortschrittlichsten Stimmen Englands im 19. Jahrhundert, verbiss sich lange Zeit in die Idee des Panoptikums. Die schlichte architektonische Idee von Bentham sah ein großes kreisförmiges Gebäude mit einem Wachturm in der Mitte vor, von dem aus die Wärter, verdeckt durch die Dunkelheit des Schattens, alle Gefangenen jederzeit sehen, ohne dass diese die Wärter erblicken können. Später dachte Michael Foucault das Bild des Panoptikums als Metapher für die Überwachungs- und Disziplinargesellschaften weiter.

Serbien hat sich unter Aleksandar Vučić zu einem eigenartigen autoritären Panoptikum entwickelt. Institutionen wurden unter Kontrolle gebracht, die für den Machterhalt relevanten gesellschaftlichen Gruppen kooptiert. Innenpolitisch wurde Vučić zum omnipräsenten Dreh- und Angelpunkt für nahezu alles. Während man das Loblied vom „goldenen Zeitalter“ anstimmte, wurde der Staat von einem gehorsamen klientelistischen Netzwerk durchzogen, in dem die öffentlichen Güter und Ressourcen wie das Privateigentum der Machtclique wurde. Zum festen Bestandteil des Vučić-Panoptikums wurde die populistische Moralisierung. Gute Serb(inn)en sind nur jene, die zu Vučić stehen, dem selbststilisierten großen Vater der Nation, und zu seiner Serbischen Fortschrittspartei. Die ehemaligen Eliten, die Opposition und all jene Bürger(innen), die mit gesundem Menschenverstand und Sachlichkeit kritisch ihre Stimmen erheben, wurden zu Outcasts, zu schlechten und nicht würdigen Serb(inn) en. Die meisten – ob regimefreundlich oder kritisch – starrten wie benommen auf den großen Wächter in der Mitte.

Zensur durch Lärm

Peter Pomerantsev sprach von „Zensur durch Lärm“ – und beschrieb damit jene Strategie, die in Serbien unter Vučić zum System wurde. „Statt ihre Gegner auszuschalten, fluten autokratische Systeme die Welt mit vielen Lügen, die am Ende die Wahrheit unter sich begraben.“ Vor wenigen Tagen veröffentliche die unabhängige NGO CRTA die Ergebnisse der Untersuchung der medialen Berichterstattung in Serbien im Jahr 2022. Eine Ziffer verblüffte – der serbische Präsident absolvierte im letzten Jahr sage und schreibe 300 abendfüllende Fernsehauftritte.

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