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MEMOIREN UND ZEITGESCHICHTE

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Die Zeitgeschichte ist bemüht, Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit, vor allem des Zeitraumes seit 1917, wissenschaftlich zu klären und zu beschreiben. Der Beginn jeder derartigen Bemühung besteht im Sammeln des Quellenmaterials, also vornehmlich der Akten, auf deren sicherer Grundlage dann die Darstellung aufgebaut werden kann. Wer meint, daß der Historiker der Zeitgeschichte einem Mangel an Akten trotz der bestehenden Archivsperren gegenübersteht, der irrt, denn schon seit 1918 haben die Großmächte ebenso wie die kleinen Staaten eine Fülle von Aktenwerken publiziert, die es ermöglichen, die Forschung aufzubauen. Was für die Zeit nach 1918 gilt, wiederholte sich nach 1945 in wenn auch veränderter Form durch die Herausgabe der verschiedenen Prozeßakten und der Dokumentenserien der im zweiten Weltkrieg beteiligten Regierungen, wobei die britische, aber auch die italienische Regierung in ihren Publikationen weit zurückgreifen in das Feld der Zwischenkriegszeit und somit teilweise Anschluß finden an das für Oesterreich so wichtige Schicksalsjahr 1918. Dazu kommt noch, daß durch ein Entgegenkommen der österreichischen Archivverwalfung in jüngster Zeit die Aktenbesfände des österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchivs bis zu den letzten Tagen der Monarchie freigegeben wurden und wir nunmehr in der Lage sind, den Todeskampf des Habsburgerreiches auch wissenschaftlich zu erforschen.

Der Zusammenbruch der alt-legitimen monarchischen Mächte Europas in den Jahren 1917 und 1918, ihre zum Teil Auflösung, zum Teil vollkommene Umgestaltung der Regierungsform, brachte wohl eine Anzahl von Publikationen. Ueberwiegend aber waren es Memoiren, Rechtfertigungsschriften und bittere Polemiken der Handelnden und Verantwortlichen, die zunächst den ruhigen Gang der historischen Forschung störten und die Stimme der Gelehrten vielfach übertönten. Nicht einmal die militärischen Ereignisse, über die am leichtesten der Ueberblick zu gewinnen gewesen wäre, wurden vollständig ausgeschöpft. Ja, selbst die amtliche Geschichtsschreibung unterlag da und dort der höheren Zensur, die wiederum aus dem Staafsnotstand heraus handelte.

Nach 1945 wiederholten sich dieselben Erscheinungen. Wieder waren es neben den Akfenveröffentlichungen die Memoiren und Rechtferfigungsschriffen, die in einer Hochflut erschienen und anklagend, entschuldigend, je nach dem Standpunkt des Verfassers, ihre Stimme erhoben.

Die Frage, ob die Aufzeichnungen von Zeitgenossen überhaupt einen historischen Werf besitzen, wird immer wieder neu gestellt. Schon Johann Gustav Droysen hat einmal festgestellt: „Mag der einzelne meinen dürfen, daß gerade sein Gesichtskreis ein besonders anziehender, seine Person eine besonders beachtenswerte war, oder mag er sein Vorhaben irgendwie zu rechtfertigen oder aufzuklären haben, oder die Tatsachen in einer bestimmten Weise ausgeprägt zu überliefern wünschen . .. 4das Wesentliche isf hier nicht der schöne Stil und der zweifelhafte Ruhm der historischen Kunst, sondern das Sachgemäße und die gründliche Kenntnis der behandelten Dinge." Diese Idealforderung, die Droysen an die Memoiren stellt, wird seifen erreicht, denn jedes Erinnerungswerk isf nicht nur zeitbedingt, sondern steht und fällt bis zu einem gewissen Grad mit dem Standort des Verfassers und seiner tatsächlichen Mitwirkung an dem historischen Geschehen. Je weiter der Abstand zu dem geschilderten Zeitraum ist, desto eher kann man erwarten, daß solche Erinnerungswerke auch bereits die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse berücksichtigen und die Gefahr einschränken, „daß die Legende als die feinere Form der Unwahrheit sich allmählich einzuschleichen beginnt. Der Historiker wird mit kritischer Genauigkeit alle Memoiren werten müssen und daraus den Gewinn ziehen, seine Einblicke aus dem Akfenstudium ergänzen, persönliche Erfahrungen des Autors mitverwerten und die politische Atmosphäre einer Epoche richtig darstellen zu können.

Dies gilt allgemein für die Zeit vor der Entstehung totalitärer Staats- und Herrschaftsformen in dem mitteleuropäischen Terrain. Geradezu unentbehrlich aber wird die Aussage des Augenzeugen für die Abschnitte unserer leidvollen Geschichte seit 1933. Wohl haben wir amtliche Akten und Dokumente, Prozesse und Urteile, aber die Wahrheit hinter den Akten haben die modernen Staatsformen und ihre Führungsmethoden weitgehend verdunkeln können. Nicht mehr regierten in den Staatskanzleien die gesamteuropäisch gleiche Form der exakten Hochbürokraiie etwa des auswärtigen Dienstes, sondern off dubiose, geheime Führungsgremien, deren weittragende Bescjilüsse.kaum aktenkundlich aufscheinen, es sei denn, daß durch Zufall einer der Beteiligten Fetzen Von Geheimprotokollen öder Monologe der Sfaatsführer aufzeichnen und reiten konnte. Aber auch in der Epoche des europäischen Parlamentarismus, namentlich in Oesterreich und in der Weimarer Republik, verlagerten sich viele bedeutsame Vorgänge in die Klubs der maßgebenden Parteien, deren Aufzeichnungen wieder durch die nachfolgenden Regimes vernichtet oder verschleppt wurden.

Somit ergibt sich, wie dies bereits die amerikanische und deutsche Zeitgeschichfs- forschung in breitestem Maße tut, immer wieder die Notwendigkeit der Befragung von Augenzeugen über gewisse Vorgänge, die aus den Akten gar nicht mehr rekonstruierbar sind. Hierin liegt mif der Nutzen der Erinnerungen von Persönlichkeiten. Viele solcher Aufzeichnungen ruhen noch in den Schreibtischen und Familienarchiven.

Alle diese sekundären Quellen aufzuspüren, isf eine Aufgabe der Zeitgeschichte. Für Oesterreich gilt dies in besonderem Maße, da wir seif der Wiederbegründung unseres Staates Abstand zur leidvollen Geschichte der letzten Jahrzehnte gewonnen haben. Die ersten Bemühungen zur wissenschaftlichen Klärung der Geschichte der Republik und der letzten Jahre der altehrwürdigen Monarchie liegen bereits vor. Unter diesen Werken nahm Friedrich Funders erster Band „Vom Gestern ins Heute" eine besondere Stellung ein. Dr. Funder hat als Politiker ebenso wie als Beobachter und Erleidender seine Aufzeichnungen verfaßt; nicht Geschichtschreibung, wie er selbst im Vorwort des ersten Bandes bekannte, sollten sie sein, sondern nur aus persönlicher Zeugenschaff einen schlichten Beitrag zur rechten und gerechten Beurteilung einer schicksalsschweren Periode. Reichte der erste Band aus der Monarchie bis in die Geschichte der Republik, als Bundeskanzler Dr. Seipel sein Rettungswerk für Oesterreich begann, so wird der zweite Band bis 1945 weisen. Es ist ein Glück, daß der Verfasser entgegen seiner ursprünglichen Absicht dieses Kapitel, von dem er glaubte, daß es offen bleiben müßte, um dereinst von einem großen Weisen geschrieben zu werden, noch abfassen konnte. Funder ist einer der Weisen, der nicht nur den Abstand im gegenseitigen Verzeihen der Vergangenheit gefunden hat, sondern der sich auch der Verpflichtung gegenüber der Geschichtsforschung bewußt war. So wie er als Publizist in den Gründungstagen und -monaten der „Furche" der Forschung zur Geschichte der jüngsten Vergangenheit immer breitesten Raum in seinem Blatt gab, so hat er auch immer wieder versucht, im Gespräch mif dem Historiker die Standortbestimmung unserer jüngsten Vergangenheit zu ergänzen und damit mitzuhelfen, daß die Wahrheit, die allein der Zweck der Forschung ist und bleibt, zutage treten möge. Er hat in seinem ersten großen Memoirenwerk eine echte Aussage und ein Bekenntnis geliefert, und die Tatsache, daß in jeder ernstzunehmenden zeitgeschichtlichen Veröffentlichung über die jüngste österreichische Vergangenheit Funders Memoiren kritisch oder wertend erwähnt sind, beweist neuerlich, daß die Forschung der Mithilfe der persönlichen Aussage nicht entraten kann und darf.

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