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Wer bezahlt die Renten von morgen?

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Schläft die Politik? Das staatliche Pensionssystem schlittert unaufhaltsam in die Krise, wenn nicht bald etwas geschieht.

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Schläft die Politik? Das staatliche Pensionssystem schlittert unaufhaltsam in die Krise, wenn nicht bald etwas geschieht.

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Es ist immer schwierig, politische Entscheidungen zu treffen, die erst in 20 oder 30 Jahren voll wirksam werden. Dies zeigt sich deutlich bei der Umweltpolitik, die insbesondere durch die Unsicherheit über die Konsequenzen unseres Handelns zur Passivität verdammt zu sein scheint. Auch sozialpolitische Entscheidungen, wie die nachhaltige Sicherung der Pensionen, haben eine sehr langfristige Perspektive. In diesem Fall können wir aber nicht mit der Unsicherheit zukünftiger Entwicklungen argumentieren. Die Zukunft hängt hier vor allem von Bevölkerungsentwicklungen und Altersstrukturveränderungen ab, die mit relativ großer Genauigkeit vorausgesagt werden können.

Wir wissen, daß die Bevölkerungen in allen europäischen Ländern nach der Jahrhundertwende deutlich altern werden. Das ergibt sich zum Großteil aus den heutigen Altersstrukturen, hängt also damit zusammen, daß etwa die 60jährigen des Jahres 2050 heute bereits geboren sind. Da es heute deutlich mehr Erwachsene als Kinder gibt, wird es morgen mehr Alte als Erwachsene geben.

Das Durchschnittsalter der Bevölkerung wird in den nächsten sechzig Jahren überall in Europa um fast zehn Jahre auf etwa 47 Jahre ansteigen. Der Anteil der über 60jährigen wird schon bis zum Jahr 2030 auf ein Drittel der gesamten Bevölkerung anwachsen. Die Zahl der über 80jährigen wird sich vervielfachen. Stehen heute in Westeuropa 100 Kindern und Jugendlichen etwa 15 über 80jährige gegenüber, so wird dieses Verhältnis im Jahr 2050 ungefähr 100 zu 70 lauten.

Wir wissen auch sehr genau, wann der Alterungsprozeß seinen Höhepunkt erreichen wird. Die fortschreitende Alterung im 21. Jahrhundert hängt in Europa insbesondere mit dem Zeitpunkt des Babybooms (der in Osterreich im Jahr 1963 seinen Höhepunkt erreicht hat) und dem Tempo des daran anschließenden Geburtenrückganges zusammen. Daher wird die Zahl der Pensionisten insbesondere nach dem Jahr 2020 sprunghaft ansteigen, die Zahl sehr alter, oft pflegebedürftiger Personen erst zwanzig Jahre später.

Die Alterung europäischer Gesellschaften ist tatsächlich aber ein schon fast 100 Jahre dauernder Prozeß: sie ist das Ergebnis kontinuierlich abnehmender Sterbe- und insbesondere Geburtenraten im Zuge der Industrialisierung der westlichen Welt und somit ein unvermeidbares Nebenprodukt der Entwicklung eines Landes. Der demographische Übergang von hohen zu niedrigen Sterbe- und Geburtenraten, welcher sich in Österreich im wesentlichen zwischen 1850 und 1940 vollzogen hat, ist in der ersten Phase von starkem Bevölkerungswachstum und in der zweiten Phase (in Österreich in den Jahren 1940 bis 1970) von einer Alterung der Bevölkerung begleitet.

Alt und Gesund

Die Alterung der westlichen Gesellschaften hat in den letzten Jahrzehnten eine neue Qualität bekommen. Seit dem Babyboom in den sechziger Jahren fielen die Geburtenraten als Folge der rapiden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in allen westlichen Ländern deutlich unter das Niveau von 2,1 Kindern pro Frau, das Niveau, das die Reproduktion der Gesellschaft sicherstellen würde (Geburtenraten in Österreich: 1963 2,8 Kinder, 1973 1,9 Kinder, 1993 1,5 Kinder).

Gleichzeitig hat die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt seit 1970 ziemlich unerwartet um mehr als sechs Jahre zugenommen, wobei im Gegensatz zu den -V—

Jahrzehnten davor insbesondere auch das Sterberisiko der über 60jährigen deutlich abgenommen hat. Zum einen hat sich der Alterungsprozeß der europäischen Bevölkerung dadurch deutlich beschleunigt. Zum anderen müssen wir uns auf die völlig neue Situation einstellen, längerfristig mit einem Rückgang der Bevölkerung rechnen zu müssen, wodurch es schwieriger wird, der Alterung gesellschaftspolitisch zu begegnen. Auch die wirtschaftspolitischen Konsequenzen einer stark alternden Erwerbsbevölkerung sind nicht wirklich bekannt.

Zuwanderung verstärken?

Da die gesellschaftliche Alterung demographische Ursachen hat, wird die Lösung des Problems oft von demographischer beziehungsweise bevölkerungspolitischer Seite gesucht oder sogar erwartet Diese Erwartung ist aber äußerst unrealistisch; ganz im Gegenteil muß von demographischer Seite eher mit einer weiteren Akzentuierung des Problems gerechnet werden.

Die Entwicklung der Sterberaten in den letzten Jahrzehnten läßt den Schluß zu, daß wir in Zukunft mit noch höheren Lebenserwartungen rechnen dürfen, was für jeden einzelnen wohl sehr erfreulich, für die Gesellschaft aber sicher nicht unproblematisch ist. Steigende Geburtenraten, die zumindest sehr langfristig der Alterung der Bevölkerung entgegenwirken könnten, erscheinen aus heutiger Sicht äußerst unwahrscheinlich. Die fortschreitende Individualisierung, die Veränderung der geschlechtsspezifischen Rollenbilder, steigende Erwerbsquoten der Frauen und die steigenden Kinderkosten lassen eher auf einen weiteren Rückgang der Geburtenraten schließen.

Da weder Mortalitäts- noch Ferti-litätsentwicklungen Grund zur Annahme geben, daß die Alterung der Bevölkerung ein nur vorübergehen-

des Phänomen ist, wird gelegentlich eine demographische Lösung in Form verstärkter Zuwanderung aus dem Ausland vorgeschlagen.

Die Alterung der Bevölkerung kann dadurch sicher nicht gestoppt werden. Jüngere Einwanderer von heute stellen schließlich die zu versorgenden Alten von morgen dar; das Alterungsproblem kann somit allenfalls aufgeschoben werden. Theoretisch könnte Einwanderung die Alterung auf zwei Weisen langfristig verhindern: in dem Arbeitsmigranten vor ihrer Pensionierung wieder zurückgeschickt würden (das brächte Verjüngung ohne anschließende Kosten); oder indem die Zahl der Einwanderer Jahr für Jahr deutlich, mindestens linear, anstiege (was einem „künstlichen” Wachstum gleichkäme). Ersteres ist moralisch und letzteres politisch undurchführbar.

Moralisch bedenklich

Migration kann aber im Zuge der Alterung dennoch eine wichtige Funktion erfüllen. Sie kann einen Bevölkerungsrückgang und insbesondere eine Abnahme der erwerbstätigen Bevölkerung, die sicher nicht ohne wirtschafts- und gesellschaftspolitische Folgen wäre (und in Österreich für die Zeit nach dem Jahr 2010 zu erwarten ist), verhindern.

Die fortschreitende Alterung ist in ganz Europa unabwendbar und wird mit demographischen Mitteln auch nicht aufzuhalten sein. Unsere Aufgabe wird es sein, auf diese Alterung mit vernünftigen und vor allem rechtzeitigen Maßnahmen zu reagieren. Die folgende Auseinandersetzung mit der Pensionsproblematik soll dies veranschaulichen.

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