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Der Schauplatz der Geschichte

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Das 125jähnge Jubiläum des Verlages Velhagen und Klasing brachte die 80. Auflage des „Putzger“ als völlig neubearbeitete Jubiläumsausgabe, die auf dem wissenschaftlichen Büchermarkt als Sensation zu werten ist. Seit der ersten Auflage (1877) sind 84 Jahre verstrichen, der Atlas erschien seit 1877 in Österreich, seit 1911 in England und seit 1923 in der Schweiz in Sonderauflagen. Die ursprünglichen 113 Karten haben sich auf 190 vermehrt, und mehr als 100 Mitarbeiter aus sechs Staaten, darunter auch Österreicher (G. Hamann, R. Klein, W. Krallen, E. L e n d 1, W. Wagner), haben dafür gesorgt, daß Geschichte, Pädagogik und Kartographie gebührend auf ihre Rechnung kommen. Die Farbgebung der mit Legenden versehenen Karten und die Beschriftungen sind ebenso gelungen wie die gewählten Maßstäbe zweckmäßig sind. Beachtung verdient unter anderem die Planisphäre auf Blatt 142/43 mit der Mächtegruppierung der Gegenwart. Vorteilhaft gelöst ist die Verteilung der Karten auf die Perioden der Urgeschichte, des Altertums, des Früh-, Hoch- und Spätmittelalters sowie der Neuzeit (bis 1789, bis 1914, bis zu den Luftkorridoren Berlins 1960).

Die erste Hälfte des Atlasses gehört den sechs Jahrtausenden, von 4500 v. Chr. bis 1500, die zweite Hälfte den folgenden 460 Jahren. Es bleibt zu bewundern, wie die schwere Aufgabe, einen unendlich angewachsenen Stoff bei nicht erweitertem Umfang zu bewältigen, erfüllt worden ist, was nicht ausschließlich durch die allgemein üblich gewordene doppelseitige Benützung der Kartenblätter erzielt wurde. Die Reduzierung jahrelanger ereignisreicher Geschichtsabschnitte auf eine einzige Karte oder auf nur wenige Blätter (1618/48, 1792/1815, 1914/18, 1938/45) beweist, daß Scharfsinn richtiges Maßhalten ermöglicht. Nicht umsonst haben wir einen „Weltatlas“ vor uns, denn er erstreckt bei gebotener Betonung Europas die Darstellung durch alle Zeiten und auf alle Kontinente und gestattet derart eine synchronistische Betrachtung, der auch das praktische graphisch-synchronistische Ortsund Sachregister dient. Trotz weitgehender Berücksichtigung aller Entwicklungselemente des historischen Geschehens hält der Putzger die ihm gezogenen Grenzen streng ein.

Einen Begriff vom Reichtum des Gebotenen möge die nachfolgende Aufzählung bieten: den geschichtlichen Schauplatz erläutern Bodenbedeckung und -be-nützung, Vegetation, Klimazonen, Siedlung, Landschaftsgliederungen; die großen Bewegungen finden sich in den Wanderungen (Völkerwanderung bis zum Flüchtlingsstrom nach 1945), Kolonisation, Kolonialismus, Entdeckungen in besonderen Expansionen, im Auf- und Abstieg der Weltreiche und wichtiger Dynastien, in der Entwicklung des Christentums (Missionen, Klöster, Reformation und Gegenreformation), im geistigen Fortschritt durch Entstehung der Universitäten; die Militärgeschichte tritt in angemessener Art zutage: Eroberungen, Heeres- und Kriegszüge, Kreuzzüge, Schlachtenorte, Flottenaktionen (auch U-Boote), Limes, Chinesische Mauer, Westwall, Maginotlinie. Festungen; der Wirtschaft sind Darstellungen von Entwicklungsquerschnitten, von Handel (Hansa), wichtigen Vorkommen (Öl) und Verkehr (Handelsstraßen, Bahnen) gewidmet; auf Kleinkarten begegnen uns Städte, Pfalzen, Häfen, Schlösser, Fundstellen; die religiösen und politischen Komponenten erscheinen durch Wiedergabe der Konfessionen (Kirchenorganisation) und Sprachen, der politischen Parteien und Verfassungen, der Bündnisse und Pakte (Völkerbund, Vereinte Nationen), schließlich der letzten Weltsituation berücksichtigt. Nirgends ergeben sich Einseitigkeiten, und meisterhaft sind Geschichte und Kultur miteinander zur natürlichen Einheit verwoben, nicht wie anderenorts künstlich und geistlos getrennt.

Daß ein so umfangreiches Werk, wie der Putzger, bei aller “Vollständigkeit doch noch einige Wünsche offenläßt, ist begreiflich. Bei den Entdeckungen sollten die arktischen Forschungsreisen miteinbezogen werden; im Bereiche des Weltverkehrs werden die ersten großen Schiff-fahrts- und Luftverkehrslinien vermißt; nicht nur für Städte, sondern für die Gesamterdbevölkerung sollte die Zunahme in einigen Querschnitten gezeigt werden; die Aufgliederung der Verluste des zweiten Weltkrieges ist ungemein lehrreich (rund 55 Millionen Tote, hiervon nur 44,66 Prozent Soldaten, rund 50 Millionen Hücht-linge), es regt sich aber der Wunsch, die Zahlen zur Erdbevölkerung in Relation zu setzen bei gleichzeitigem Vergleich, zum Beispiel mit 1618/48 oder 1914/18.

Besondere Schwierigkeit verursacht die Ortsnamenschreibweise, vor allem in manchen Staaten nach den beiden Weltkriegen. Vielleicht könnte man allgemein den Grundsatz aufstellen, daß jeder Ort jeweils in zeitgenössischer Schreibart anzuführen sei, in der Klammer aber die historische oder spätere Bezeichnung: Konstantinopel

(Istanbul) bzw. Istanbul (Konstantinopel). Die Internarionalisierung des Verkehrs macht es weiter empfehlenswert, in den jüngsten Karten die Orte in ihrer nationalen Schreibart zu bringen, in der Klammer aber den deutschen Namen: Warszawa (Warschau). In einem Ortsregister könnten in wichtigen Fällen alle bisher vorgekommenen Bezeichnungen aufgenommen werden: Subotica — Szabadka — Maria-Theresionopel. Fraglich ist die Schreibart bei einzelnen Orten, wie z. B.: Wyscheh-rad (Vysehrad), Sathmar (Szatmär), Lodsch (Lodz, Lods, Lodz), Dragaschan (Drägä-

sani). Verhältnismäßig häufig sind Ver-schreibungen bei den ungarischen Namen. Von sonstigen kleinen Irrtümern wären unter anderem noch anzuführen: auf 96 statt 1866/67, richtig 1866; auf 99 statt Budapest (erst 18721) richtig Buda — (Ofen) und Pest; auf 117 ist „Tscherna-dova“ ein Druckfehler; auf IIS „Kriegs-“ statt „Heeres “-Leitung und richtig 7. X. 1915 statt 19. IX. 1915.

Gesamturteil: der Weltatlas stellt eine besonders beachtliche wissenschaftliche Leistung dar, er ist ein sehr wertvoller und unentbehrlicher Nachschlagebehelf nicht nur für den geschichtlich Interessierten, sondern für jeden Gebildeten, selbstverständlich auch für Studierende aller Kategorien. Der Österreicher wird ihn in jeder Beziehung für seine eigenen Zwecke entsprechend finden.

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