6609435-1954_41_16.jpg
Digital In Arbeit

Die Welt der Märchen

Werbung
Werbung
Werbung

Professor v. d. Leyen, der gemeinsam mit Paul Zaunert die berühmte Reihe der „Märchen der Weltliteratur" des Diederichsschen Verlags herausgegeben hat, unternimmt es in dem hier zu besprechenden Werk, die Summe aus dem reichen Material zu ziehen, das auf seine Anregung hin in etwa vierzig Bänden durch berufene Kenner der einzelnen Sondergebiete zusammengetragen worden ist. In diesem Kreis fehlen von Märchen beachtlicher Völker nur die polnischen — grundlegend dafür Glinski „Bajarz polski", J. Krzyzanowski „Polska Bajka ludowa"; die tschechischen — vgl. Tille „Soupis českych pohädek" —; die jüdischen — man schöpfe aus der Haggada —- und die koreanischen — am ehesten zugänglich in der tschechischen Bearbeitung von Vlasta Hilskä. Aus der fast vollständigen Gesamtheit, die dem greisen Nestor der deutschen Märchenforschung zur Verfügung stand, bat er nun in fünf geographisch voneinander getrennten Gruppen das jeder dieser Gebiete Eigentümliche hervorgehoben und dabei das über alle Grenzen hinweg Allgemein-Menschliche der Märchen geschildert. Es gibt ja kaum einen gültigeren

Zeugen für die Einheit des Menschengeschlechts, als die Wiederkehr verwandter Motive in den Sagen und Märchen aller Zonen. Von der Leyen hütet sich mit gutem Recht, aus derlei Ueberein- stimmung vorschnell auf unmittelbare Beeinflussung zu schließen. Immerhin vermag die vergleichende Märchenforschung das Ihre mitzuhelfen, um Zusammenhänge zwischen einzelnen, oft weit auseinanderliegenden Kulturen zu sichern. Das trifft z. B. für Sibirien und die indianische Urbevölkerung Nordamerikas zu.

Der Verfasser gliedert sein Buch in folgende Abschnitte: Die Welt der Primitiven, die alte Welt um das Mittelmeer, Indien, der weite Osten, der nahe Osten. Das erste dieser Kapitel vereint etwas künstlich die Indianer beider Amerika — wobei Azteken und Tolteken, Maya und Peruaner wahrlich kaum zu den Primitiven zu rechnen sind —, Sibirien, Ainos, Polynesier und Melanesier, Neger, Insulinde — was wiederum, wenigstens für einzelne Polynesier, für mehrere Negerkulturen und für die reiche insulindische Kultur eine ungerechtfertigte Capitis diminiuto bedeutet. Das zweite Kapitel begreift den alten Orient außer Persien, dann Hellas und Rom ein Das dritte enthält Indien, Tibet, die Mongolei, das vierte (warum nicht der „Ferne" Osten?) China und Japan, das fünfte Iran, Turkestan und die um „1001 Nacht" zentrierte arabische Märchendichtung. Die Ein-

teilung will uns nicht recht behagen. Es werden natürliche, enge Zusammenhänge dabei zerrissen, wie die zwischen Persien und Indien, zwischen beiden und den arabischen Ländern. Weit eher wäre folgende Gruppierung zu wählen: fernöstlich sino-koreanisch-japanische Welt samt ihrer Ausstrahlung nach Hinterindien und Tibet, Turkestan und Sibirien; Indisch-persisch-arabischer Raum samt dem alten Orient als Voraussetzung und in der doppelten brahmaistisch-buddhistischen und muselmanischen Fortführung; europäischer Kulturkreis; afrikanische Welt; Indonesien-Polynesien- Melanesien; Nordamerika; Mittel- und Südamerika.

Von dieser ersten methodologischen Einwendung abgesehen, sind wir von der Leyen für die in schöner und schlichter, dem Thema gemäßer Sprache erzählten Zusammenfassungen der wesentlichen Märcheninhalte ebenso dankbar wie für die reichen Erfahrungen, die er aus ihm ableitet. Allerdings hätten wir noch einen zweiten Wunsch anzumelden, der vermutlich und hoffentlich im zu erwartenden zweiten Band ohnedies erfüllt werden dürfte, den nach einer systematischen Gliederung der Märchen. Der verehrte Autor könnte zweifellos auf Grund seiner souveränen Kenntnis des Stoffes über die bisherigen Bemühungen, etwa des Finnen Aarne, des Russen Andreev, des Tschechen V. Tille, des Amerikaners S. Thompson vorstoßen. Von der Leyen hat mit Recht das eigentliche Märchen scharf von der Sage, von der Legende und Mythos und vom Schwank abgegrenzt. In der Theorie ist dies freilich leichter als bei der Anwendung auf den einzelnen Fall. Die echten Volksmärchen, laut unserem Autor „Geschichten von wunderbaren Erlebnissen, die ein Held meistert", sind ihrem Ursprung nach so oft „gesunkenes Religionsgut", Legenden und Mythen von ureinst, wie unser „Gestiefelter Kater“ oder „Rotkäppchen", Schwänke, wie die „Bremer Stadtmusikanten", Sagen, wie das „Tapfere Schneiderlein" oder „Der Rattenfänger von Hameln" (in dem übrigens auch mythische Momente auftauchen). Es ist bisher noch nicht gelungen, eine befriedigende Systematik des Märchens zu schaffen, die nämlich einem einheitlichen, konsequent festgehaltenen Einteilungsgrund gehorchte. Hier etwas Gültiges zu ersinnen, das wäre eine Aufgabe, die zu lösen kaum jemand eher berufen wäre als Professor von der Leyen.

Seine hohen Verdienste als Anreger, Sammler, Erzähler und Deuter der Märchen treten in seinem jüngsten, liebenswerten Buch so eindringlich hervor, daß er uns kaum dieses Anliegen verübeln dürfte, mit dessen Erfüllung er sein gewaltiges Vollbringen krönen würde.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung