6752966-1967_35_08.jpg
Digital In Arbeit

Gottes Wege in der Materie

Werbung
Werbung
Werbung

Jedesmal, wenn ich durch den großartigen Steinbruch von Sankt Margarethen gehe und die Werke der Bildhauer betrachte, packt mich das GefübL hier geschehe ein zentrales Experiment des Menschen; hier geschehe in einem vorbildlichen Sinn das, was den Menschen zum Menschen mache. Da ist die Natur mit ihrem intensiven, ihrem gewaltigen, ihrem faszinierenden, aber auch ihrem bedrohlichen Charakter. Und ihr tritt der Mensch als der Gestalltende entgegen. Der Mensch, der die Natur erobert durch Gestaltung! Und es ist sicher nicht zufällig, daß der Künstler sich hier exemplarisch als der Mensch erweist. Indem er gestaltet, indem er die grundlegende Verantwortung für Gestaltung wahrnimmt, übernimmt er zugleich die grundlegende Verantwortung für das Menschsein des Menschen. Er gestaltet Räume und humanisiert sie damit. Er markiert mit Zeichen, und solche Zeichensetzung bezeugt die Herrschaft des Menschen über die Natur. Er aktiviert den Stein in der Gestaltung, wie Karl Prantl sagt, und nun fängt der Stein an, dem Menschen, der dafür einen Sinn hatt, Fragen zu stellen. Es entsteht der Dialog zwischen dem Menschen und dem Kunstwerk, ein Dialog, durch den der Mensch einen neuen Weg geführt werden kann. Vielleicht hört jetzt der Mensch sogar den Anruf des Werkes, den ein Rilke-Gedicht formuliert („Archaischer Torso Apollos“): „Du mußt dein Leben ändern.“ So meine ich sagen zu dürfen: in diesem Experiment steht der Künstler stellvertretend für den Menschen. Und es ist sicher nicht zufällig, daß es heute nicht mehr das genialische Künstlerindividuum ist, sondern die Gruppe. Die Gruppe erinnernd an die alte Bauhütte, in der das gemeinsame Werk enstand. Die Gruppe, die das Individuum umschließt und es zugleich freistellt. — So stehen Künstler in diesem Experiment für uns alle, um als Gestaltende ihr Menschsein zu bewähren oder vielleicht auch darin zu versagen. Aber ihr Bewähren und ihr Versagen soll uns andere nachdenklich machen, soll uns andere auf die eigentliche Aufgabe des Menschseins hinweisen. Wir sind durch das Experiment gefragt, ob wir noch imstande sind, nachdenklich zu werden und auf Anrufe zu hören; mit einem Wort: wir sind gefragt, ob wir noch menschliche Menschen sind und ob wir bereit sind, wieder menschliche Menschen zu werden. Moderne Denker sprechen heute

oft vom grundlegenden Übergang aus dem primären tos sekundäre Weltbild. Zur primären Welt gehört die Natur, gehört ein Himmel über der festgegründeten Erde; hier gibt es ein sinnvolles „Oben“ und „Unten“. Hier gibt es die großen Rhythmen: Tag und Nacht, Sommer und Winter, Leben und Tod. Hier gibt es die großen Typologien, wie das Männliche und das Weibliche. Und überall gibt es die Geheimnisse der Symbole, Riten und Religionen. In die Primärwelt hinein bricht heute die Sekundärwelt, die uns zugleich fasziniert und bedroht. Es ist das die Welt der Formel, der Technik, der Wissenschaft, der abstrakten Kultur, des Atoms, der Raumschifffahrt, der Kybernetik. Der Basler Biologe Adolf Portmann macht immer wieder darauf aufmerksam, daß das Bestehen dieses Übergangs von der Primärwelt in die Sekundärwelt die Zentralaufgabe unserer Epoche sei. Und es gehe darum, mutig in die Sekundärwelt aufzubrechen, sich mutig nach vorn zu

öffnen und zugleich die Verwurzelung in der Primärwelt zu behalten. So frage ich nun: ist nicht das Experiment der Künstler noch einmal der Versuch, diesen Übergang zu be» stehen, sich nach vorn zu öffnen und

zugleich die Verwurzelung in der Primärwelt zu behalten? Ist nicht das Experiment der Künstler noch einmal der Versuch, das Menschsein des Menschen in einer Ubergangszeit zu bewahren? Und ist ihr Mut zum Neuen, der sich von unserem Jammer über die moderne Welt vorteilhaft abhebt, nicht vorbildlich? Zugleich aber auch ihr Versuch, gerade im Experiment von Sankt

Margarethen, die Primärwelt nicht einfach zu verlassen, sondern sie in eine Synthese mit einer neuen Welt zu bringen?

Radikale Veränderung der Erde

Das Experiment des Symposions spricht mich als Theologe an. Ich denke an die alten Sätze der Bibel, die den Gottesauftrag an den Menschen mit dem Wort umschreiben: „Machet euch die Erde Untertan.“ Ich denke daran, daß dieser Satz hebräische Worte gebraucht, die eine überaus radikale Veränderung der Erde durch den Menschen vorsehen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung