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Kräfteverbrauch, Kräfteausgleich oder Kräftezusammenfassung ?

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Degen und Waage. Schicksal und Gesetz europäischer Politik. Von Janko Musulin. Verlag für Geschichte und Politik, Wien. 300 Seiten

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Degen und Waage. Schicksal und Gesetz europäischer Politik. Von Janko Musulin. Verlag für Geschichte und Politik, Wien. 300 Seiten

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Degen und Waage sind die Symbole gegensätzlicher Kräfte, einander widerstreitender politischer Konzepte. Der Degen: Mittel zur gewaltsamen

Durchsetzung eines den Umkreis beherrschenden Machtwollens. Die Waage: Zeichen abwägender, auf Ausgleich beider Schalen hinstrebender Bemühungen. Gibt es noch ein „Drittes“, sofern der Kampf um die Vorherrschaft als aussichtslos erkannt wird und die Waage des gegenseitigen Gleichgewichts nicht einspielen will? Es könnte eines geben: das die Kräfte zusammenfassende Ligasystem, in jüngster

Vergangenheit verkörpert durch den Völkerbund,

in der Gegenwart durch die UNO.

Zwischen diesem Kampf um die Vorherrschaft und dem Streben nach Kräfteausgleich pendelt die europäische Geschichte. Schon zur Zeit der Staufer war deren Ringen um die europäische Universalherrschaft ein von ruhmvoller Vergangenheit geblendetes und irregeleitetes Streben. „Das Reich

Friedrichs I.“, schreibt Friedrich Heer, „ruhte, einem mächtigen Fossil, einem aus karolingisch-ottonischer Vorzeit herstammenden erratischen Urblock gleichend, im Strom, im Vielfältigen Kräftespiel einer bereits ganz anders gearteten Welt." Den römischdeutschen Kaisern, die den Hohenstaufen folgten, fehlte es an Macht zur Durchsetzung eines solchen Anspruches. Erst Karl V., dessen vielschichtiges Staatensystem den einzigen ernstlichen Rivalen,

Frankreich, umklammerte, konnte wieder „nach den Sternen greifen“. Auch diesmal erwies sich der Anspruch als „ein mächtiges Fossil“. Janko Musulin hat dieser Aera letzten imperialen Machtwillens (Napoleon baute nur noch auf labilen militärischen Konjunkturen) mit Recht einen wesentlichen, an treffenden historischen Beobachtungen reichen Abschnitt seiner Studie gewidmet. Und nun, da Karl V.

gescheitert ist, ergeben sich’ zwei konzentrische Systeme der „balance of power“: ein innerdeutsches, im Zentrum des Kontinents (hie Kaisertum, gestützt auf die „Erblande“, hie „deutsche Fürstenlibertät“) und ein europäisches, in welchem Frankreich, sekundiert von der Türkei, den beiden aus der Erbmasse nach Karl V. entstandenen habsburgischen Reichen „die Waage“ Hält. Als die Waagschale Frankreichs unter Ludwig XIV. eindrucksvoll steigt, die der Habsburger Dynastien bedenklich sinkt, werden die Karten im Spiel um Europa neu gemischt. England tritt als Schiedsrichter in die Arena, freilich als ein Schiedsrichter in Waffen, durch welche er demjenigen der beiden Rivalen, der zu unterliegen droht, seine Hilfe leiht. Es ist die Zeit Prinz Eugens und Marlborouhgs, den Musulin in lebhaften Farben und mit ‘starker innerer Anteilnahme an dem scharfsinnigen und konsequenten Spiel der britischen Staatsmänner zeichnet. Zentrale Persönlichkeit seiner Darstellung ist John Churchill, erster Herzog von Marlborough, Sohn eines Winston Churchill und Vorfahr jenes späteren, dessen glänzende Biographie seines Ahnherrn den Autor sichtlich beeindruckt hat. Nach dem napoleonischen Zwischenspiel schafft der Wiener Kongreß unter tätiger Mitwirkung Castlereaghs ein neues Kräftegleichgewicht. Dann ist es England selbst, das unter George Cannings politischer Leitung die europäische Gemeinsamkeit unterminiert und schließlich sprengt, bis nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870 71 eine neue „balance of power“1 entsteht, die erst im ersten Weltkrieg zusammenbricht, Es wäre, einer Untersuchung wert — und vielleicht wert gewesen —, ob nicht auch kontinentale Konzepte dem gleichen Kräfteausgleich zustrebten, wie etwa die diametrale Umkehrung der kaiserlichen Politik unter dem Fürsten Kaunitz, wie denn auch das Wirken Prinz Eugens und Metternichs in Musülins Darstellung hinter jenem der gleichzeitigen britischen Staatsmänner, leider zurücktritt. Als schon durch die britische Politik die Pentarchie der Großmächte (die, ergänzt durch die „Heilige Allianz" und die patroni- sierten Kleinstaaten, eine Art „Völkerbund" im Kern vorgebildet hatte) ihre westlichen Eckpfeiler verlor,, hielt die österreichische Staatskpnst bis zu den unseligen Experimenten Buols noch an der Politik eines gerechten Ausgleiches zwischen Oesterreich und Preußen fest — angelehnt an Rußland, eine friedenswährende Kräftevereinigung im eigentlichen Konti- nentalcuropa.

Musulin hat seine Analyse, die. in zahlreiche Randgebiete leuchtet, in eine arischaulich-aufgelok- kerte Sprache gekleidet, welche das Buch ungeachtet seines thematischen Gewichtes auch zu einer anregenden Lektüre macht. Es bietet vielen vieles und wird, da es den Gedanken der „balance of power“ eingehend und erhellend darstellt, der nicht nur in England erhobenen Forderung gerecht, Suprematie durch Ausgleich und — wenn möglich — Kräftezusammenfassung zu ersetzen. Ein- solches System der Zusammenarbeit und des wechselseitigen Schutzes müßte, wie Musulin richtig darlegt, umfassend, revolutionär und effektiv sein. Werden wir dahin gelangen?

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