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NEUES FORSCHUNGSINSTITUT Alltag des Mittelalters

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In öffentlichen Museen und Privatsammlungen des In- und Auslandes werden ohne Zweifel noch eine Vielzahl von Objekten auf bewahrt, die als „Realien“ österreichischer Provenienz, als Sachgüter, die über die Vielfalt des Lebens und die Erzeugnisse menschlicher Betätigung Aufschluß geben, angesprochen werden können. Man muß sich aber dennoch der Tatsache bewußt sein, daß die in den Sammlungen über-

lieferten Gegenstände nur noch einen Bruchteil dessen verkörpern, was einst im Mittelalter in Fülle und Vielfalt hergestellt und verwendet worden war, schon allein deshalb, weil Gebrauchsgegenstände dem

Verschleiß anheimfielen, durch neue Realien ersetzt wurden.

Der Wiener Archäologe Josef Feil führte schon 1845 in bewegten Worten Klage über den Verlust von Schätzen aus den aufgehobenen Klöstern Gaming und Mauerbach. Der langjährige Redakteur der Mitteilungen der k. k. Zentralkommission, Karl Lind, kam in seinem 1873 erschienenen Bericht über die Tätigkeit des Wiener Altertumsvereins zur erschütternden Feststellung, daß ausländische Sammler, Antiquare und Kunsthändler ungeheure Mengen an wertvollsten Objekten erwerben und Weiterverkäufen, darunter viele Zeugnisse des pulsierenden Lebens des mittelalterlichen Alltags. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem unter dem Einfluß Rankes und Jakob Burckhardts und der damit eng verbundenen kulturgeschichtlichen Einstellung der Zeit, entstand in Wien die Sammlung Dr. Albert Figdors, die europäischen Ruf genossen hat. Die an sich völlig unsystematische Sammlung enthielt neben bedeutendsten Stücken des Kunstgewerbes, der Malerei und Plastik scheinbar unwichtigen Hausrat und Geräte, Werkzeuge, Meßinstrumente, Modeln und Lehren.

Albert Figdors große Sammlung

Der Ausstellungskatalog von 1932 führt an solchen „Realien“ des Mittelalters Rippenbecher, Nuppenglä- ser und gotische Glasbecher an, beim Möbel Truhenschränke, Waschkasten, Sakristeischrank, ferner gotische Messer und die sogenannten „Apostellöffel“, Rasiermesser des

13. 14. Jahrhunderts und einen Schuhlöffel des beginnenden 16. Sae- culums; bei den Handwerksgeräten unter anderem Schmiedezangen, Amputationssägen, Goldschmiedehammer, Flaschenzüge und Prägestempel des mittelalterlichen Buchbinders, es waren aber auch Kleidungsstücke und Schmuck von Fid- gor in seinem unermüdlichen und untrüglichen Spürsinn bei seinen Reisen erworben worden. Das Schicksal dieser Sammlung nach dem Tode ihres Gründers ist kein Ruhmesblatt für Österreich: nur geringfügige Reste wurden erworben, der größte Teil gelangte in Berlin zur Versteigerung!

Systematische Erfassung

Es wird aus der kurzen Skizzierung verständlich, daß mehr denn je die Forderung berechtigt erscheint,

an Hand der zeitgenössischen ikono- graphischen Quellen — gemeint sind Tafelbilder, Buch- und Glasmalerei, Wandmalerei, Graphik, Inkunabeln, Reliefs und Grabdenkmäler sowie Siegel — systematisch die Realien photographisch zu erfassen und ein möglichst komplettes Repertorium anzulegen. Es wird nach langjähriger Forschungstätigkeit möglich sein, den Fachleuten diverser Disziplinen ein Material darzubieten, bei dessen wissenschaftlicher Bearbeitung besondere Kriterien zur Anwendung gelangen werden müssen, will man nicht Gefahr laufen, auf ikonogra- phischen Quellen dargestellte Objekte und Geräte unrichtig zu interpretieren, wobei hier der ikonogra- phischen Quelle derselbe Wert wie einer Urkunde und einem Akt zukommt, freilich unter Berücksichtigung einer zu erarbeitenden „ikono- graphischen Quellenkritik“.

Österreich hat um so mehr Anrecht auf eine solche Forschungsstätte, als man der Erfassung und Deutung der Realien bereits seit der Barockzeit größte Aufmerksamkeit zugewandt hat. Am Beginn dieser Forschungstätigkeit steht P. Mar- quard Herrgott aus St. Blasien, gefolgt vom Tiroler Alois Primisser, der durch die Betreuung der Ambraser Sammlungen sich intensiv mit Realien beschäftigte, während der Vorarlberger Joseph von Bergmann über die Numismatik den Weg dahin fand. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sich, teils unter französischem Einfluß, eine erfreuliche Aufwärtsentwicklung. Namhafte Persönlichkeiten, unter ihnen der Bibliothekar Ernst Birk, der Archäologe und Kunsthistoriker Eduard von Sacken, Albert Came- sina, Josef Feil und Karl Lind, die entweder der k. k. Zentralkommission für Erforschung und Erhaltung der Baudenkmäler oder dem Wiener Altertumsverein angehörten, erachteten es als ihre vornehmste Aufgabe, den unscheinbaren Geräten und Gefäßen, dem Werkzeug, der Tracht und dem Schmuck, Wohnung und Mobiliar, der Körper- und Gesundheitspflege u. a. m. ihr Augenmerk zu schenken.

Leistungen im Alleingang

Wenngleich einzelne Professoren der Wiener Universität und Mitglieder der Akademie der Wissenschaften wie R. v. Eitelberger, Joseph Aschbach oder Luschin v. Ebengreuth eine wohlwollende Haltung an den Tag legten, war man doch weit davon entfernt, eine auf Denkmäler und Realien gestützte Kulturgeschichte auch nur zu versuchen oder in die Wege zu leiten. Dessen ungeachtet wurde der einmal beschrittene Pfad von vielen Einzelforschern weiter begangen. David Schönherr als Kunsthistoriker und Oswald Zingerle als Philologe — letzterer durch seine mittelalterlichen Inventare aus Tirol und Vorarlberg — erschlossen diie Sachgüter und waren bemüht, ein zeitgenössisches Glossar für Realien zu erarbeiten. August v. Loehr wurde in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nie müde, auf diie Bedeutung der Realien hinzuweisen, Eduard Holz- mair folgte als Numismatiker diesen Intentionen, und Leopold Schmidt hält seit längerer Zeit in verdienstvoller Weise regelmäßig ein Kolleg über volkskundliche Realien. Alphons Lhotsky, dessen Laufbahn am Kunsthistorischen Museum begann, gilt als besonderer Verfechter der Realien, in denen die Vielfalt der Lebensäußerungen erkannt werden will, freilich immer im Zusammenhang mit der Funktion, die dem Einzelobjekt zukommt.

Der Umstand, daß der größte Teil der Realien in Verlust geraten ist und daß einzelne Persönlichkeiten zwar auf vielfältige Weise zur Erschließung beigetragen haben, vielfach aber an den technischen Voraussetzungen, nämlich der mangelnden Verwendung der Photographie, scheitern mußten, ließ den Gedanken reifen, ein „Institut für mittelalterliche Realienkunde Österreichs“ ins Leben zu rufen.

Fernziel: Realienlexikon

Diese Anregung des Verfassers wurde von der österreichischen Akademie der Wissenschaften aufgenommen, die beabsichtigt, gemeinsam mit der Stadt Krems a. d. Donau und dem Land Niederösterreich ein neues Akademieinstitut mit dem Sitz in Krems zu finanzieren. Das in der Zwischenzeit gebildete Kuratoriüm steht unter dem Vorsitz von Professor Dr. A. Lhotsky, überdies gehören ihm namhafte Historiker, Kunsthistoriker und Philologen an, letztere deshalb, weil es früher oder später auch notwendig sein wird, Testamente, Verlassenschaften, Rech- nungs- und Mautbücher, Reisebeschreibungen und zahllose andere schriftliche Quellen auszuschöpfen, um zu einem zeitgenössischen Glossar der Realien zu gelangen.

Das Bestreben muß ohne Zweifel dahin gehen, möglichst alle Lebensbereiche gleichmäßig zu erfassen, wofür das nachfolgende Schema als Leitfaden dienen soll:

Der Lebenslauf — Das Wohnen — Siedlungen — Kirche und Kirchenausstattung — Kleidung und Barttracht.— Nahrung, Eß- und Trink gerate — Jagd und Fischfang — Körper- und Gesundheitspflege, Krankheiten — Zeitmessung, Tagesablauf — Landwirtschaft, Handwerk und Handel — Verkehrsmittel, Reisen, Herbergen — Kriegswesen — Staatsaltertümer — Wissenschaft und Bildung sowie Unterhaltung und Belustigung.

Das bereitzustellende Material wird vielen Disziplinen zugute kommen und bei entsprechenden Vergleichs- und Verifizierungsmöglichkeiten bedeutsamen Aufschluß über Beschaffenheit und Funktion der Realien geben können. Die Kunstgeschichte und Denkmalpflege können mit nicht unerheblichen Resultaten rechnen, ebenso die Volkskunde, die Mode, Medizingeschichte, Handwerks- und Wirtschaftsgeschichte, Technikgeschichte, Musikgeschichte und Waffenkunde, um nur einige zu erwähnen. Die gestellte Aufgabe ist ohne Zweifel ihrem Umfang nach gewaltig und deshalb langwierig, es wird jahrzehntelanger intensiver Forschung bedürfen, um jene Unterlagen zu erarbeiten, die eine Herausgabe eines „Lexikons mittelalterlicher Realien Österreichs“ ermöglichen werden.

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