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VON NEUEN BÜCHERN

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Von Josef Nadler, österreichischer Verlag für Belletristik und Wissenschaft, Linz an der Donau 1948, 515 Seiten

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Von Josef Nadler, österreichischer Verlag für Belletristik und Wissenschaft, Linz an der Donau 1948, 515 Seiten

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Nach Anlage, Ausführung und Umfang bildet das vorliegende Werk mit Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Schweiz“ (1932) ein Paar. „Das Volk der Schweiz und Österreichs ist sehr verschiedener Herkunft. Wenn das geistige Gesicht beider Länder so manchen und dauerhaften Zug gemeinsam hat, so kann das nicht seinen Grund unmittelbar in der Volksnatur, sondern muß ihn in den Lebensbedin- gungen haben. Ist dem aber so, dann ist das österreichische Volk in seinem Grundbestände durch seinen Wahnraum ausgeformt und durchgebildet worden.“ — Diese letztere, aus zahlreichen Einzelbeobachtungen gefolgerte Erkenntnis Nadlers, ist die „Idee“, unter welcher die zahlreichen auseinanderfallenden literarischen Phänomene zusammengefaßt werden. So erfolgt, besonders bei der Betrachtung der nejieren Literatur, die Anordnung nicht nach Schulen, Gruppen und Richtungen, sondern nach den Ländern und Städten. Die vier Hauptabschnitte, in Welche sich das Werk gliedert (Romanik und Gotik, Renaissance und Barock, Eigenstil 1740 bis 1866 und Moderne 1866 bis 1918) haben demgegenüber lediglich die Bedeutung chronologischer Zäsuren.

Der Stoff umfaßt nicht nur literarische Denkmäler, sondern das Schrifttum im weitesten Sinne, das mit dem Auge des Kulturhistorikers gesehen und mit den Kenntnissen des Polyhistors dargestellt wird. Auch auf dies Werk Nadlers trifft zu, was Hofmannsthal — der einen größeren Aufsatz über Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ plante — sich notiert hatte: „Das Buch läßt nichts verlorengehen, es zeigt das Geistesleben der Nation als kontinuierlichen Prozeß der Selbstbewußtwerdung… Er (Nadler) hat die geistigen Leistungen auf ein Letztes sie Bewirkendes zurückgeführt, das die Individuen überdauert und, während sie historisch ayerden, gegenwärtig bleibt wie das Dasein der Berge und Flüsse…“ So wird, zumeist am Anfang der größeren Kapitel, mit knappen Strichen ein kulturhistorisches Bild des betreffenden Raumes entworfen, aus dem dann die einzelnen literarischen Leistungen herauswachsen. Es ist selbstverständlich, daß bei dieser Anlage des Werkes auch nur vorübergehend in Österreich ansässige Dichter behandelt werden und das sich bei der Darstellung der neueren Literatur der Verfasser nicht auf das Gebiet des heutigen Österreich beschränkt. Glanzzeiten der österreichischen Literatur, insbesondere des

Theaters, sind zugleich auch Höhepunkte der Darstellung, so das Wiener Theater, S. 109 ff (Neidhardspiel, Hochschultheater, Kaiserspiel, Beitrag des Schottenstifts, Deutsche Spiele und Jesuitentheater) und die Volks-, Passions- Sagen- und Tanzspiele der Tiroler, S. 125 ff. An Einzeldarstellungen verdienen besonders hervorgehoben zu werden: Walthers Sprüche, die Analyse des Nibelungenliedes, das Kapitel Sage, Lied und Spiel, Postl, Stifter, Grillparzer und die Ebner-Eschenbach. In der neueren Literatur steht, ziemlich massiv, Hermann Bahr dem liberalen Flügel gegenüber. Den Abschluß bilden Rilke und Hofmannsthal, wobei sich die Waage bedeutend nach der Seite des letzteren senkt.

An Stelle der Herausarbeitung — oder Konstruktion — von literarischen Strömungen und Lehrmeinungen versucht Nadler, aus der fast unübersehbaren Menge von Gesichtern österreichischer Dichter die gemeinsamen Familienzügie ihrer Werke und damit der österreichischen Literatur abzulesen. Er gelangt dabei zu folgenden Feststellungen: Keine der einander ablösenden literarischen Bewegungen — im Sinne einer „Schule" — ist von Österreich ausgegangen, und keine von außen kommende hat die heimische Literatur durchdrungen und umgewandelt. Die österreichische Dichtung hat einen gleichmäßigen, steten Fluß mit eigenem Gefälle. Selbst was wie Klassik und Romantik aussieht, ist hier weder das eine noch das andere. Österreichs Dichtung erzeugte sich immer wieder aus den drei natürlichen Wurzeln der Dichtung: aus Sage, Lied und Spiel. Niemals hat es in Österreich — etwa wie in Deutschland von Martin Opitz bis Arno Holz — leidenschaftliche Meinungskämpfe um die lehrhaften Voraussetzungen der Dichtkunst (Poetik) gegeben. Die Ursachen hiefür sieht Nadler in der fehlenden Neigung zum systematischen Denken und in der naiven Hingabe des Volkes an seine Kunst.

Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wieweit diese Erkenntnis des Autors mit den in der letzten Auflage seiner „Literaturgeschichte des deutschen Volkes" vorgetragenen, übereinstimmen und diese beiden Werke, das vorliegende und das während des Krieges beendete, gegeneinander abzuwägen. Randbemerkungen zu einem so umfassenden und materialreichen Werk zu machen, erschiene müßig im Hinblick auf die verdienstvoll und durchaus eigenständige Gesamtleistung.

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