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Alte Probleme in neuer Sicht

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G. B. Shaw hat seinerzeit seinem „Major Barbara’“ eine „Erste Hilfe für Kritiker“ vorangestellt, in der er auf seinen literarischen englischen Stammbaum, sozusagen auf seine geistige Autarkie pocht und sich dagegen verwahrt, allh Gefolgsmann von Schopenhauer, Nietzsche und Ibsen gewertet zu werden. Zweifellos mit Recht, und doch trifft mau den Kern des nacht leicht zugänglichen Stückes wohl am ehesten, wenn man es ein Stüde um Nietzsches „Willen zur Macht“ nennt, in dessen geistesgeschichtUche Nähe es eindeutig gehört. Denn um die Macht geht es hier, um die Macht über die Körper, Geister und Seelen. Vater und Tochter stehen, feindlich und verwandt zugleich, neben- und gegeneinander.- Er, der Mann aus dem Volke, der unbekannte Findling, der sich hinaufgeschwungen hat zum Millionär und Kanonenköniig und der mit seinem aus dem Blut und Leid der Völker gekelterten Geld dien Staat und die Gesellschaft beherrscht; sie, die Millionärstochter und Enkelin eines Grafen, die als „Major“ der Heilsarmee hinunter steigt in die Slums, auch um Macht •an gewinnen über die Herzen. Prachtvoll, wie diese beiden Weiten lebendig werden, denn Shaws komplexe Natur hat an beiden Anteil, er liebt und haßt beide zugleich. Er geißelt den Kapitalismus und die sozialen Mißstände — und bewundert den rücksichtslosen Gewaltmenschen Undershaft, das stolze Raubtier, den unmoralischen „Herrenmenschen“. Er verspottet die Schwächen der Heilsarmee, Sire Leichtgläubigkeit, ihre Illusionen und ihre oberflächlichen „Bekehrungen“ — und ist doch zugleich von einer tiefen, scheuen Bewunderung für die Herzenstorheit der H eilsa rmeehelf er i rtnen erfüllt. Am dieser doppelt-zwiespältigen Haltung ergibt sich die eigentümliche Hintergründigkeit und Doppelbodigkeit des Stücks. Die Lösung? Sha.w hat keine zu bieten, und deshalb ist der dritte Akt auch so unbefriedigend, so lange hingezogen, mit Wortfeuerwerken, Geiistreicheleien, Paradoxen ange- füHt, die den Leerlauf nur. notdürftig zu überdecken vermögen. Doch gerade in diesem Fehlen einer echten Lösung enthüllt das Stück, von heute, von unseren Leiden und Erfahrungen her gesehen, eine neue Tiefe und Bedeutung. Hätte Shaw einen besseren, echten Schluß finden können, dann — hätte es seither wohl auch keine zwei Weltkriege „und keine sozialen Weltrevolutionen gegeben. Gerade der scheinbare Mangel erhält so nachträglich seine weltgeschichtliche Rechtfertigung. Sie waren einander doch zu ähnlich, der Millionär Undershaft und seine Tochter! r

Am Schluß bleibt die Frage: Sind die Probleme unserer eigenen Zeit so ernst, so tief erkannt, so überwältigend, daß wir sie nicht auf die Bühne stellen können, wie es die Generation Shaws getan? Sind wir uns ihrer SchicksalsbedeuBong zu sehr bewußt, so daß wir lieber die Stücke einer vergangenen Epoche hemehmen, um dann in ihnen plötzlich in einer tieferen Schicht die Problematik unserer eigenen Zeit zu erkennen? Gerade dadurch, daß das Burgtheater das Stück in einer bewußt historischen, kostümgetreuen

Aufführung bringt, wird uns paradoxerweise seine Bedeutung für die heutige Zeit besonders deutlich.

Dieselbe Frage am nächsten Tag in der „Insel“ — bei „Voruntersuchung“ von Max Alsberg und Otto Ernst Hesse. Eiin gut gebautes, bühnensicheres Kriminalstück.Nicht mehr? Gewiß, das hier mitbehandelte (übrigens auch bei Shaw anldingende) „Gene- rationenproblem“ ist den heutigen Generationen kein Problem mehr. Aber das Thema der „Voruntersuchung“, des im Grunde unfairen Zweikampfes zwischen dem von der Schuld seines Opfers von vornherein überzeugten Untersudiungsrichter und dem hilflos in den Maschen der Justiz verwickelten Verdächtigen, offenbart heute, im Zeitalter der politischen und Gesinnungsjustiz, eine

Hintergründigkeit, daß es ernenn kalk über den Rücken laufen könnte. Wie, wenn der von Hans Brand mit beklemmender Lebensechtheit gespielte — Landesgerichtrat Bienert noch über die Machtmittel und den Nimbus des totalen Staates und über die raffiniertesten, modernsten Methoden der Medizin, Psychologie und Chemie verfügt? Es scheint wirklich, daß die Problematik unserer Zeit die dramatische Darstellungs- möglichkeit übersteigt.

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