„Die Wirklichkeit wirklicher machen“
Zeit, Sprache, Wirklichkeit und die Möglichkeiten der Literatur: Thomas Stangl im Gespräch über seinen jüngsten Roman „Fremde Verwandtschaften“.
Zeit, Sprache, Wirklichkeit und die Möglichkeiten der Literatur: Thomas Stangl im Gespräch über seinen jüngsten Roman „Fremde Verwandtschaften“.
Thomas Stangl prägt seit seinem Debütroman "Der einzige Ort", für den er den Aspekte-Literaturpreis 2004 erhielt, die österreichische Literatur mit besonders sprachbewussten Werken. In diesem Frühjahr erschien mit "Fremde Verwandtschaften" ein Roman, der seinen Protagonisten nach Afrika bringt.
Booklet: Ein Architekt fliegt nach Afrika zu einem Kongress. Die Woche dehnt sich, wird ihm teilweise unerträglich lang - was machen Sie da mit der Zeit?
Thomas Stangl: Auf der Handlungsebene dehnt sich die Zeit schon durch die Schlaflosigkeit des Architekten, der dadurch in einen etwas entrückten oder zweideutigen Zustand gerät. Und der Kongress wird einerseits erwartbar langweilig, andererseits aber wird der Zeitplan nie eingehalten. Es müssten immer neue Tage eingeschoben werden, um mit dem Geplanten zurande zu kommen. Diese Dehnung der Zeit ist für mich auch literarisch wichtig, weil dadurch so etwas wie ein besonderer Blick darstellbar wird, auf jeden einzelnen Moment und die Vielfalt von Erfahrungen, die im einzelnen Moment zu machen sind, auch die Vielfalt von Fantasien, in die sich dieser Moment ausfälteln kann.
Booklet: Präsenz spielt eine wichtige Rolle, auch die Vergangenheit scheint hier absolut präsent.
Stangl: Ja, das ist mir in all meinen Texten wichtig. Ich erzähle fast immer im Präsens, auch wenn die Handlung sich in der Vergangenheit abspielt. Ich versuche, die Vergangenheit nicht als etwas Abgeschlossenes zu zeichnen, sie eher zu beschwören denn zu erzählen und sie auf möglichst intensive und auch körperliche Form wiederherzustellen in der Sprache. Die verschiedenen Zeitebenen eher nebeneinander zu stellen als sie in einer zeitlichen Abfolge darzustellen.
Booklet: Ich bin immer auch das, was ich war ...
Stangl: Ja, und eine 30 Jahre alte Erinnerung ist nicht unbedingt weiter weg als eine Erinnerung an etwas, das gestern war.
Booklet: Die Erinnerung an Bruder und Vater verwebt sich mit der Gegenwart in "Afrika". Sie betreten damit ein heikles Feld. Wie geht man literarisch mit dem europäischen Blick um, der etwa Afrika exotisch macht, mit all den Klischees?
Stangl: Die Schwierigkeit habe ich beim Schreiben in jedem Satz gespürt. Es stimmt, dass Afrika als Generalbegriff höchst problematisch ist. Ich habe versucht, diese Problematik mitzubedenken, die mir einerseits im Schreiben begegnet ist, andererseits auch dem Protagonisten immer im Bewusstsein ist. Diese Reisegesellschaft ist ein Haufen postkolonialgeschulter Leute. Auch der Architekt. Gleichzeitig macht ihn seine Art, sich durchs Land zu bewegen, auch seltsam, weil er ständig durch seine Reflexion gehemmt wird und fast nie so etwas wie einen offenen Blick und einen natürlichen Umgang mit den Leuten findet, mit denen er zu tun hat. Ich habe aber auch versucht, die Exotik ein wenig umzudrehen. Das Afrika, durch das der Architekt reist, ist eine reale Umgebung, die nicht per se etwas Exotisches an sich hat, während aber dieser Architekt in seinem Verhältnis zu seiner Familie etwas Archaisches bekommt und nicht von afrikanischen, sondern von seinen eigenen Gespenstern heimgesucht wird. Das Exotische ist sozusagen ins Eigene verlagert.
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