"Ich Befrage Mich Selbst"

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IN JOSEPH ZODERERS ROMAN FÄLLT DIE MAU-ER UND BRICHT DIE GESCHICHTE AB, ALS SIE NEU BEGINNEN KÖNNTE.

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IN JOSEPH ZODERERS ROMAN FÄLLT DIE MAU-ER UND BRICHT DIE GESCHICHTE AB, ALS SIE NEU BEGINNEN KÖNNTE.

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Schon wieder eine Dreiecksgeschichte. Noch dazu nach dem denkbar einfachsten, traditionsreichsten Schema: die Geschichte eines Mannes, der lange zwischen zwei Frauen und zwei Welten pendelt, ohne rechtzeitig zu bemerken, dass ihm die Kontrolle über sein Leben entgleitet. Als gäbe es nicht schon genug Geschichten von dieser Sorte, auch wesentlich vielschichtigere, richtig komplizierte sogar, wie Tom Tykwers Film "Drei".

Zoderers neuer Roman ist allerdings nur auf der oberflächlichsten Ebene als Dreiecksgeschichte zu lesen. Vielmehr ein Verhör, ein recht unkonventionelles Verhör noch dazu. Denn die Befragung des Beschuldigten übernimmt niemand anderer als der Beschuldigte selbst. Richard, der Held des Romans, hat im Corriere della Sera ein Interview mit dem 78-jährigen Max Frisch gelesen. "Non scrivo più, mi interrogo." Der Satz geht ihm seither nicht mehr aus dem Kopf; sich selbst befragen, das ist es, was ihn mehr und mehr umtreibt.

"Er akzeptierte sich als Objekt auf dem Seziertisch." Lange Zeit drängt es ihn, einfach zu erzählen; überaus gern würde sich Richard dabei in den Mittelpunkt einer abenteuerlichen Geschichte rücken, "ohne sich an die Stirn zu schlagen". Aber er kommt nicht zu Wort -weil sich von Anfang an ein Erzähler einschaltet, der es übernimmt, diese Geschichte wiederzugeben: Richard hat einen alten, seit Jahren leer stehenden Bergbauernhof renoviert und lebt in dieser Fluchtburg mit seiner Frau Selma und den beiden Buben alles andere als unglücklich, seit seine Beziehung zu Ursula, einer jungen Kollegin, ein Ende gefunden zu haben scheint.

Sein Leben erfährt indessen eine Wendung, nachdem er als Auslandskorrespondent schließlich nach Berlin übersiedeln muss, wo er, ganz unerwartet, wieder mit Ursula zusammentrifft. Mit einem Mal sind alle seine Vorsätze und Bemühungen, das Leben in ruhigere Bahnen zu lenken, vergessen; er verstrickt sich vielmehr so sehr in den Fesseln der Leidenschaft, dass er, der Rundfunkreporter, beinah übersieht, was ringsum passiert und alle Welt in den Bann zieht: Die Mauer ist gefallen.

Zoderers Handschrift

Das Ende ist hier nicht zu verraten; allenfalls soviel, dass die Geschichte just an einem Punkt abbricht, an dem sie ganz neu beginnen könnte. Das ist zweifellos ein Signum der Poetizität dieses Romans, der über das vieldeutige Ende hinaus eine lange Reihe weiterer schöner Passagen enthält, die quasibiografisch angelegt und dennoch zugleich ver-dichtet die unverwechselbare Handschrift Zoderers dokumentieren (und manchmal auch direkt zitieren). Der erzähltechnische Rahmen hingegen wirkt brüchig, weil der Erzähler nicht selten die Distanz zum Protagonisten löscht und weil somit die Reflexionen dieser beiden Grausamkeitsspezialisten hin und wieder ganz ineinander übergehen, bis sie (was doch nur der Redeweise einer Figur zugestanden werden könnte) in Stilblüten-Anlagen endlich zum Stillstand kommen. Allzu oft decken Wie-Vergleiche und Genitivmetaphern konkrete, nüchterne, harte Beschreibungen fast vollkommen zu. Viel zu oft werden Wahrnehmungen, die keines weiteren Kommentars mehr bedürften, mit derartigen rhetorischen Mitteln schließlich festgeschraubt ("Ursula war ihm wie eine kleine Blütenstaubwolke zugeflogen [...]. Ihre Haut roch wie ein wolliges Nest, und ihre Brüste waren kraftvoll und wie Blumen in den Gärten von Semiramis").

Es ist offensichtlich, dass der Erzähler sehr genau weiß, was Richard durch den Kopf geht und was er alles sich zurechtlegt, als müsste er - wenn er doch noch einmal selber erzählen dürfte -pausenlos sich verteidigen. Der Erzähler durchschaut das und rüttelt dennoch nicht an dem Standpunkt der Figur. Und der Autor rüttelt nicht an dem Standpunkt seines Erzählers: Zoderer, der Widerspruchsexperte, hat noch nie so offen in einer Erzählung auf jedes Abschleifen seiner Kanten durch behutsame Stilisierungen oder radikale Streichungen verzichtet.

Die Farben der Grausamkeit Roman von Joseph Zoderer Haymon 2011.334 S., geb., € 19,90

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