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Die Absolutheit des Fragmentarischen

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WIE MODERN IST EINE LITERATUR? Aufs ätze von Walter Hilsbecher. Nymphen- burger Verlagshandlunf, München, 1965. 172 Seiten. Preis 12.80 DM.

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WIE MODERN IST EINE LITERATUR? Aufs ätze von Walter Hilsbecher. Nymphen- burger Verlagshandlunf, München, 1965. 172 Seiten. Preis 12.80 DM.

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„Das Expansionszeitalter der europäischen Literatur hat sein Ende erreicht“, unter dieser Hypothese, so meint der Verfasser in seinem ideenreichen und ausgezeichnet geschriebenen Essay „Wie modern ist eine Literatur?“, verliere dieser Titel seinen ironischen Unterton. Er untersucht zunächst den Begriff „modern“ und findet: Nicht auf das „anders“ kommt es an, sondern auf das „umfassender“. Bewundernswert der Scharfsinn, mit dem er dies aus der Analogie mit der modernen Physik darlegt. Er warnt davor, die kausale Struktur unseres Geistes zu vergessen und uns der Akausalität in die Arme zu werfen.

Dieser Versuchung sei von allen Großen der „Moderne“ am wenigsten Faulkner erlegen, sein Werk daher am meisten „zukünftig“. Dagegen neigten die großen europäischen Romanciers (für das heutige Bewußtsein repräsentiere allein der Roman die Literatur) zur Hypertrophie des Mikrokosmos, zum Fragment. So Proust, Kafka und Joyce. Eventuell suchten sie, wie Mann und Jünger, im Essay die Form zu wahren. Die Kleinen wüßten nur Gesellschaftskritik zu geben, da sie, in ihrer Ratlosigkeit vor dem neuen Weltgefühl, unfähig sind, zu schockieren, das heißt, die Grundwahrheiten neu zu formulieren.

Als Grund für den Trend zur ato- matisierten Kunst — und damit auch für den Mangel an klassischem Klima — wird die Hochspannung abgegeben, die, durch den Hochflug des Intellekts über die anderen menschlichen Sphären verursacht, im heutigen Bewußtsein herrscht. Diese Hochspannung gelte es zu ertragen; ihr dürfe nicht ausgewichen werden, wie es die Surrealisten versuchten.

Am Beispiel des fragmentarisch- essayistischen Werkes von Ernst Jünger wird die ganze Problematik, sozusagen Glanz und Elend, unserer Zeit geoffenbart, und schließlich zitiert der Autor drei moderne Schriftsteller aus verschiedenen Weltgegenden, um an ihrem Werk einen echten Fortschritt der „Moderne“ aufzuzeigen, der darin besteht, daß sich das Bewußtsein des schöpferischen Geistes bereits gewöhnt hat, in einer absurden, rätselhaften Welt zu leben und nicht mehr an ihr verzweifelt. Dies wird als ein Grund zur Hoffnung angesehen, daß die aufgerissene Geisteswelt sich wieder schließen werde und ebenso das Kunstwerk, das sie darzustellen sucht.

In mehreren Aufsätzen erweist der Autor die eigene Begabung zu den „legitimen Formen“ unserer Zeit. Von Einfällen geradezu überschwemmt und in geschliffener Form spürt er in einem „Essay über den Essay“ dem Wesen dieser Form nach, beknennt sich in einem Fragment über das Fragment“ — Fanatiker des Absoluten und der Totalität wife jeder Fragmentist — zum Fragmentäschen schlechthin, und weiß „über die Phantasie“ unter anderem zu sagen, daß sie der Ursprung alles Denken überhaupt sei. Vom Asketen bis zu den Opfern des Wahnsinns reiche ihr Kosmos. Sie erst mache die Wirklichkeit zur Welt.

Diesen vier Aufsätzen stehen andere vier gegenüber, die auch nicht zufällig beisammen stehen, sondern zu einer Einheit komponiert sind. Ödipus, Narziß und Hamlet, die vor Jahrhunderten entworfenen Gestalten menschlicher Phantasie, werden im Sinne der Krise des modernen gespaltenen Bewußtseins gedeutet. Ohne daß es ihm selbst bewußt werde, sei die Sehnsucht des Ödipus in die Feme nur die nach der Geborgenheit der Heimat. Ebenso sei des Narziß’ sehnsüchtiges Verlangen nach dem eigenen Spiegelbild nur sein Verlangen nach dem Ursprung, dem Nichtsein, nach dem Schoß, aus dem wir kommen. Nur Hamlet ist sich seiner Gespaltenhcit bewußt. Alle drei scheitern, weil sie zuwenig wissen.

In „Kafkas Schloß“ wird in dieser vielleicht modernsten, weil am wenigsten „modischen“ Dichtung unserer Tage die menschliche Ur- situatton erkannt. Das Irrationale, dargestellt durch das Schloß, fordert den Menschen, den Landvermess sr K., heraus, seine Ratio einzusetzen, das heißt, seinen Willen gegen diese unbegreifliche Welt in Bewegung zu setzen, um sie überschaubar zu machen. Diesem Wunsche und seiner Verwirklichung stehe nicht nur die Tatsache entgegen, daß das Unbegreifliche überall ist, sondern vor allem zwei menschliche Hauptsünden: die Ungeduld und die Lässigkeit. Betrachtungen des Verfassers über das Verhältnis der geistigen Welt der Surrealisten zu der Kafkas sind geeignet, das so nötige Verständnis für beide zu vertiefen.

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