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Die Sache mit dem Ventilator

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In der Eisenbahn von Agra nach Lucknow entbrannte ein Streit um drei funktionierende Ventilatoren. Der Zufall wollte es, daß die vierte Ventilatorenanlage auf meiner Seite des Zugsabteils abmontiert war und lediglich der am weitesten entfernte Strahler mir die Erinnerung an etwas Kühlung brachte. Mein Gegenüber, der sich gerade wohlig in dem nächstgelegenen Strahler kühlte, hatte die Nerven, mir zu sagen, daß er nicht dafür könne, daß auf meiner Seite der Ventilator nicht funktionierte. Ich solle mich doch bei der Zugsverwaltung beschweren.

Ich war im Augenblick sprachlos über eine solch ungastliche Antwort. Nach einer Weile gelangte aber der

Europäer, Schweizer und Bündner in mir zum Durchbruch. Ich richtete also die Ventilatoren in dem Sinne um, daß der nächstgelegene Strahler mich und der zweite die Gegenseite bediente. Als mein Inder den Mund auftat, sagte ich ihm ins Gesicht: „Das ist eine faire Lösung. Wenn sie Ihnen nicht paßt, hole ich die Polizei!“

Mein Mann hatte aber gar nicht protestiert. Während ich mit der Polizei drohte, hatte er lediglich ein ,,0. K., das ist mir auch recht“, hervorgebracht. Die vier anderen Inder im Zugabteil, die sich während dieser ganzen Auseinandersetzung völlig ruhig verhielten, und wahrscheinlich nur innerlich, wenn überhaupt, Partei für mich ergriffen hatten, machten sich jetzt in ihrer Sprache über den aufgebrachten Europäer lustig.

Daß sich die Inder in ihrer Sprache, von der sie annehmen konnten, daß sie mir nicht geläufig sei, über mich lustig machten, geschah nicht von ungefähr. Mit seiner Kehrtwendung hatte mein Gegenüber die Herzen seiner Landsleute erobert, so sehr sie vorher die Berechtigung meines Standpunktes eingesehen haben mochten. Aber so sehr sie damals schwiegen, so bezeichnend war es für sie nachher, ihre Einstellung in einer mir unverständlichen Sprache zum Ausdruck zu bringen. Mit meiner Drohung, allfällig die Polizei zu verständigen, hatte ich im „Popularitätswettkampf“ endgültig verloren. Die Staatsallmacht beansprucht man nur in Notfällen, und. den allermeisten Indern kommt es wohl überhaupt nie in den Sinn, für erlittenes Unrecht die Polizei zu holen.

Die indische Kulturtradition stellt eine einzige große Weigerung dar, denjenigen, dem Recht widerfährt, der die Macht in den Händen hält, der mehr Geld verdient, der eine schönere Frau sein Eigen nennt, für den wirklich Bevorzugten zu halten. Viele Inder sagten mir, nachdem ich das Gespräch auf die Frage einer chinesischen Eroberung Indiens brachte: „Und wenn es ihnen auch gelänge, was würde es ihnen nützen. Andere kamen und sind hier aufgerieben worden.“ Und hinter all diesen Aussagen schimmerte die Überzeugung der Unbesiegbarkeit Indiens durch.

Im Unabhängigkeitskampf haben die Inder eine große Energie und Hartnäckigkeit, an den Tag gelegt. Auch mein Gegenüber zeigte sich von dieser Seite. Als moderne Friedenspfeife reichte ich ihm eine an einer Zwischenstation gekaufte, wirklich neue Zeitung hin. Mit einer solchen Geste hätte ich in Italien einen Toten zum Leben erweckt. Nicht in Indien. Mein Visavis blieb reserviert, selbst nachdem die anderen Inder — unsolidarisch wie sie sind — mit mir zu diskutieren begannen. Die Verzeihensbe-reitschaft. ist nicht die Stärke des Hinduismus.,Die Indetjhaben den Engländern ihre Ungerechtigkeit nicht vergeben, aber an die Errungenschaften der Kolonialherrschaft wollen sie gewöhnlich nicht erinnert werden. Kurzum: der Inder ist ein Mensch, dessen Kultur ihn lehrt, nicht an das Glück des Reichtums, der Macht, der Rechtsdurchsetzung zu glauben. Diese hergebrachte Kultur fordert ihn auch tagtäglich auf, zu erfahren, daß die Unabhängigkeit von diesen Dingen wirkliche Freiheit und Befreiung von den Nöten des Daseins bedeutet. In den meisten Fällen ist deshalb der Kampf für einen traditionsgebundenen Inder völlig sinnlos.

Freilich ist mit dieser Charakteristik des indischen Volkscharakters wenig über die Schlagkraft der indischen Armee ausgesagt. Diese Armee trägt noch immer den Stempel Großbritanniens. Es ist erstaunlich, bis zu welchem Grade indische Offiziere 15 Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit englisch sind bis auf die Knochen. Am Tag deT Republik, wenn Zehntausende durch die Straßen Delhis defilieren, kann sich jedermann davon überzeugen. Es bestehen wenig Zweifel, daß sich die Armee im Kampf mit den Chinesen sehr gut schlagen würde. Anderseits fehlt es den indischen Kampfeinheiten fast völlig an modernen Waffen und schon ganz und gar an einer atomaren Ausrüstung. Sie sind auch viel zu wenig zahlreich, um die angeblich 18 Millionen gutausgerüsteten und trainierten chinesischen Soldaten aufzuhalten.

So lange die hinduistische Kulturtradition nachwirkt, und eine viertausendjährige Kulturtradition kann nicht von heute auf morgen überwunden werden, darf man sich jedoch von der indischen Kriegstüchtigkeit keine Wunder versprechen. Es braucht Deutsche und Japaner, um in völlig aussichtsloser Situation „wie ein Mann“ „bis zu den Toren von Berlin und Hiroshima' zu kämpfen. Indien träumt noch immer und besonders im Verhältnis zu den übermächtigen Gegnern den Traum der Gewaltlosigkeit. Wer dies nicht begriffen hat, kann seine Außenpolitik und seine ganze Einstellung bei den Genfer Gesprächen nicht verstehen. Dieses Land ist zum Neutralismus geboren.

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