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Die Slawen und der Westen

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SLAWISCHE GEISTESWELT. WEST- UND SÜDSLAWEN. Herausgegeben von St. Hafner, O. Turecek und G. W. Wytrzens. Holle-Verlag, Baden-Baden. 314 Seiten. Preis 14 DM

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SLAWISCHE GEISTESWELT. WEST- UND SÜDSLAWEN. Herausgegeben von St. Hafner, O. Turecek und G. W. Wytrzens. Holle-Verlag, Baden-Baden. 314 Seiten. Preis 14 DM

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Sollen wir uns freuen, daß in Deutschland ein so reichhaltiger, informativer Band über die Geisteswelt der West- und Südslawen erscheint? Oder sollen ererbte Begriffe von der Sendung Oesterreichs uns dazu bringen, es unnatürlich zu finden, wenn er nicht in Oesterreich herausgekommen ist? Jedenfalls hat hier der Durchschnittsleser eine wertvolle Lektüre, der Fachmann aber ein brauchbares Nachschlagewerk vor sich.

Die Herausgeber haben sich gesagt, daß eine — versteht sich, gut gewählte — Originalquelle lehrreicher ist als zehn Essays über „1’äme slave". Sie haben daher, nicht ohne den nötigen Kommentar, eine Blütenlese westslawischer Texte aus allen Jahrhunderten zur Verfügung gestellt, und haben ihren Stoff so geteilt, daß in diesem Bande unter dem Motto „Staatlichkeit und Volkstum“ meist das politische Denken zur Sprache kommt, nicht etwa die eigentliche Geisteswelt: Kunst und Religion.

Die Wahl der Texte müssen wir sehr glücklich nennen. Die Herausgeber waren selbstverständlich bemüht, nur Wesentliches zu bringen, sie haben pittoreske Randerscheinungen beiseite gelassen. Dennoch haben sie es vermieden, nun etwa nur Wohl- bekanntes zum 1001. Male abzudrucken, und wir vermissen aufatmend den „Kšaft umlrajlcl matky“ von Comenius. Im Gegenteil: sie haben es verstanden, gerade Autoren sprechen zu lassen, die man in der heutigen Konstellation zu vergessen geneigt ist, für Böhmen zum Beispiel Dyk und Kramär. Besonders müssen wir es begrüßen, daß ein hochwichtiger Text endlich dem deutschsprachigen Publi kum zugänglich gemacht wird: die Rede des berühmten Historikers Pekar, die er als damaliger Rektor der Prager tschechischen Universität beim Regierungsantritt Kaiser Karls hielt. Pekaf hat sich freilich immer zu jedem Wort bekannt, das er ein- mal gesprochen hatte; aber seine Zeitgenossen, die ihre Haltung allzuoft nachträglich rektifizierten, ließen diesen Text einigermaßen vergessen. Und doch ist es eine geschichtlich hochbedeutsame Rede; cs ist gleichsam das Ultimatum der Nation an die Dynastie: noch könnt ihr die Krone des Landes aufsetzen, noch könnt ihr unser König sein, heute könnt ihr es noch . . . Aber gerade das wollten die Offiziösen nachher nicht gesagt haben!

Vermerken wir besonders, daß die Herausgeber bei der Wahl der Texte objektiv zu verfahren bestrebt waren. Sie haben nicht versucht, den „Taubencharakter der Slawen“ zu verharmlosen, und haben daher die explosiven Aussprüche serbischer Nationalisten abgedruckt; sie wollten aber auch nicht dem Leser das Gruseln einjagen, und haben es daher vermieden, etwa die chauvinistischen Extravaganzen gewisser Dürich-Anhänger aufzunehmen.

Nun einige Worte der Kritik! Da wäre denn erstens zu sagen, daß sich der Titel des Buches nicht durchaus mit dem Inhalt deckt. Die Tatsache, daß Kleinrußland jahrhundertelang zur Krone Polens gehörte, haben die Herausgeber zum Anlaß genommen, die Ukrainer — natürlich mit scharf antiwest-liehen Dokumenten — aufzunehmen. Dagegen fehlt ein westslawisches Volk, welches doch immer noch lebt, wenn auch gerade heute unterdrückt: die Lausitzer Sorben.

Einige Male scheint uns die Uebersetzung unrichtig. So vor allem darf es im Kuttenberger Dekret niemals heißen, daß das deutsche Volk „in diesem Königreich Böhmen kein Wohnrecht hat“. König Wenzel IV. will nicht sagen, die Deutschen dürften in Böhmen nicht wohnen; sondern er meint, das deutsche Volk hätte in Böhmen kein Einwohnerrecht, kein Inkolat, kein politisches Recht: es gibt nur e i n böhmisches Staatsvolk, eine Staatssprache.

Noch einige kleinere Bemerkungen: Es scheint uns, daß der Kommentar zu Masaryk nicht adäquat ist. Zwischen den evolutionären, „realistischen“ Aeuße- rungen Masaryks und seiner — wie es hier heißt — „konspiratorischen Tätigkeit" gibt es weit mehr gedankliche Einheit, als Turecek wahrhaben will. Um das klarzumachen, müßten wir freilich einen Exkurs über die progressistische Denkungsart schreiben —

etwa an Hand der Werke von Renner und auch von Jaksch, der durchaus in diese Schule gehört. Kurz gesagt: für Renner, für laksch und ursprünglich auch für Masaryk war ein demokratisiertes, linksorientierte Donaureich ein erstrebenswertes Ziel; die Bösewichter des Dramas — die Verantwortlichen für alle Uebel des Nationalismus — sind die feudalen Staatsrechtler I Daher Masaryks Gegnerschaft gegen die „Katastrophenpolitik“ von Dyk, welche auf ein russisch bestimmtes, also antirevolutionäres Königreich hinzielte ... (Wir simplifizieren bewußt, da, wie gesagt, ein ganzer Exkurs zur Erklärung der Entwicklung nötig wäre.)

Endlich müssen wir feststellen, daß manchmal Zeilen sinnstörenderweise durcheinandergekommen sind. Aber das ist nur ein kleiner Schönheitsfehler, den man aus Rezensentenpflicht verzeichnet. Mit Recht dürfen wir uns auf den zweiten Band freuen, welcher unter dem Motto „Mensch und Welt“ die kulturellen Leistungen der betreffenden Völker darbieten soll.

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