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Die Stunde dazwischen

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Im Halbdämmern des sinkenden Herbstnachmittags liegt sie da vor mir, die kleine, unscheinbare Gasse, verwittert und zersprungen an ihrer steinigen Oberfläche, müde und verbraucht, eingesunken und holprig ihr Rücken, über den seit Jahrzehnten die eisenbeschlagene Zeit gerollt.

Habe ich nie gewußt um ihre abgehärmte Schönheit, ihre verborgenen Reize? Gehe ich nicht Tag für Tag ihre Gerade entlang, sommers, wenn die Staubfahnen hinwehen über sie im Schleierwirbel, und auch im Flockentanz winterlichen Silberkleides? Der Neubau gegenüber meinem Fenster, ragt er nicht mit seinen kühn ausladenden Firsten gleich einer bizarren Ritterburg düster und kantig in den verstrahlenden Himmel? Und der kleine Balkon, mit seinen Schnörkelgittern rundherum, auf dem tagsüber die Wäschestücke flatterten, das blaukarierte Herrenhemd neben der blüteweißen Bluse, die ihre Arme so lustig schlenkerte im frischen Wind, der durch die Gasse strich, war es nicht wie das Symbol einer glücklichen Zweisamkeit?

Ja, und an heißen Sommertagen, da ruhte der bleiche Großstadtmensch, aufgetaucht aus stickiger Schwüle seines Asyls, in ‘einem kleinen Luftschloß über der grauen Alltagswoge, ganz hingegeben der warmen Sonne.

Das ist die kleine Gasse, wie ich sie sehe in der Stunde dazwischen, der Stunde zwischen Wachen und Schlafen, Wirklichkeit und Traum ist die Stunde, da die dunklen Fittiche der Nacht lautlos sich herniedersenken über die Mauern der großen Stadt, und der lärmende Hammer des Tages weicht der leisen Sohle, auf der die Dämmerung geschritten kommt…

Auch bei mir ist heimliche Stille. Nur die kleine Schwarzwälderuhr dort an der Wand pocht die Zeit in monotonem Rhythmus in das Schweigen ringsumher.

Vor mir liegt ein Brief in zartem Umschlag hauchfeingetönter Farbe, mit einem Absender, den ich mit jedem Schlage meines Herzens in meine Nähe sehne, einem Menschen, dem ich wünsche übers Haar zu streichen und in einem tiefen Bilde nichts anderes zu sagen als das kleine Wörtchen: Du!

Worte, wie viel können sie sagen und wie wenig auch können sie bedeuten! Worte, in ihnen liegen Freude und Schmerz, Verzicht und Hingabe, Vergessen und — Wünsche nach dem Morgen. Nur Worte? Unser ganzes Leben wird dereinst vor uns liegen, Wort an Wort, Zeile für Zeile, das Novellenbuch des Lebens. Wir denken an bittere Worte des Hasses, brutale Worte des Zornes und auch an das Gestammel glücklicher Stunden. Das Wort ist das Leben, und unser Leben ist immer wieder nur auf Worte aufgebaut. Wie falsch können sie sein, wie trügerisch…, doch daran denke ich jetzt nicht. Ich denke an die Worte des Briefes, der da vor mir liegt. Und ich horche auf die Stimme, die aus ihnen spricht. Es ist eine schöne und klare Stimme, durchhaucht von der Wolke der Schwermut und vielleicht der Sehnsucht. Und darum vielleicht doppelt schön. Ich freue mich ihrer und horche immer wieder auf sie hin.

Weißt du noch? — steht über allem, die Frage nach dem Gestern und gleichzeitig die Bitte um das Morgen. Ja, das Morgen ist noch stärker als die Vergangenheit. Sie war es, die den Rahmen der Erinnerung geben wird für die Geburt eines größeren und schöneren Morgen, das illusionengleich uns augenblicklich noch umgaukelt. Für dessen Erfüllung wir bemüht, den Traum zur Wirklichkeit erstehen zu lassen, ganz nah und doch — wie fern!

Das Eisenrad der Zeit rollt darüber hin. Kein Sterblicher wird je ermächtigt sein, in seinem Laufe hemmend ihm entgegenzutreten. Nur ein Warten gibt es, ein Ausharren, bis jene Stelle den Boden wieder erreicht, die ihn einst verlassen. Es kann sehr lange dauern und doch sehr kurz nur sein, es kann sehr kurz erscheinen und doch fast eine Ewigkeit gewähren. Das Rad rollt und wir mit ihm. Es gibt kein Zurück, immer nur ein Vorwärts, Weiter … Weiter …

Und doch läuft da Rad zurück, da Rad der Erinnerung. Des größten, schönsten, wenn auch bittersten Schatzes der Menschen. An ihm hängen die winzigen Jahre, die wir Menschlein das Leben nennen. Steinige und samtene Jahre. Und sind die harten meist auch in der Überzahl, so dominieren doch die weichen, stillen und glücklichen — in der Erinnerung.

Das Böse verblaßt vor dem Guten und Schönen, wird zurückgedrängt von dem winzigen Häufchen Glück, das Menschenjahre mühsam sich erworben. Dieser kleine Stern überstrahlt all das gigantische Dunkel schicksalsschwerer Stunden, Tage und Jahre.

Und es ist gut so. Ja, es muß so sein, sonst wäre das Leben die Hölle alles Irdischen! Freuen wir uns dieses kleinen Häufchens Glück, tragen wir es mit uns in behüteter Schale der Unvergeßbarkeit, freuen wir uns an jedem Fünkchen, das dazu kommt, seinen Schein zu stärken! Denn dieser Schein ruft die Freude in uns hervor, macht das Leben lebenswert, nur der Schein und nicht das Häufchen vergänglicher Funken selbst! Denn er schwebt über ihnen und leuchtet über sie hinaus. Sind sie selbst längst untergetaucht in die Schatten der Vergangenheit, immer noch schwebt der Schein der Erinnerung in den Herzen der Menschen und spiegelt sich manchmal wider in leidzerfurchtem Antlitz.

Weiter rollt das Rad. Häuft Steine zu Bergen, trägt Berge ab, hinaus ins Tal der Vergänglichkeit. Dazwischen der Mensch. Der unscheinbare, kleine, nichtssagende Mensch. In verzweifeltem stetem Ringen mit den Quadern, die cs da gilt, zu bergen. Rennt sinnlos hin an ihre Mauern, zerschellt, wie Millionen schon vor ihm. Oder aber er steigt langsam und sachte die steilen Flanken hinan, einmal, zweimal, unzählige Male, und immer wieder ist es das kleine Licht, das ihm da leuchtet, das ihm hilft, den Weg zu finden, das Licht von gestern, für das Morgen. Das Licht von morgen, um das Leuchten von gestern. Geht die Sonne nicht unter auf glühender Bahn, werden wir auch ihren strahlenden Aufgang nicht begrüßen dürfen!

Ohne das Licht von gestern, gibt es kein Leuchten des Morgen!

Auf und ab, stetige Wechsel des Lebens, auf und ab, gestern, heute, morgen — hell und dunkel —, hart und weich, in wechselnder Folge, so ist das Leben und wir, die wir hittendrinn stehen, wir haben diesen Weg zu gehen, den das Schicksal uns für die Zukunft herausgesucht…

Doch wer schnell steigt, wird bald müde, und härter ist der Sturz aus großer Höhe als das sanfte Gleiten in die Ebene!

Daran denke wohl, du unendlich armer, winziger Mensch!

Ich schrecke auf. Ein Fenster klappert irgendwo. Es ist dunkel geworden um die Stunde dazwischen. Jener Stunde voll Barmherzigkeit und Nachsicht gegenüber dem eigenen Sein. Der kleine Balkon vom Neubau schimmert feucht im milden Lampenschein der kleinen Gasse, Schritte schallen über ihre Pflastersteine, verlieren sich irgendwo in den Winkeln der Häuser, so wie die Stunde dazwischen weicht ihrer dunklen Schwester, der Nacht.

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