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LETZTE ABENDSONNE

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Jetzt sind die.-Tore der Häuser, geöffnet, kleine, alte Tore, mit „Dunkelheit dahinter; Schlachten; idtö sich iru die Geheimnisse verschlossener Fassaden graben. Ein schwarzes Fischernetz, zum Trocknen ausgespannt, wirft lange Schatten auf das Pflaster. Es riecht nach Teer und Öl, zischendem Öl und den Fischen, die darin schwimmen. Ein kleiner Bub in weißen Söckchen, ohne Schuhe, steht selbstvergessen vor einer Tür, hält einen Taschenspiegel in der Hand, fängt damit die letzte Sonne ein und heftet sie an die Rücken der Vorübergehenden. Sein Gesicht ist sehr ernst.

… oh, ich kenne das Spiel, ich lag im Gras und hielt den kleinen geraubten Spiegel über mich und holte die Sonne und lockte sie, wohin ich wollte, auf die Spitze der Akazie und in die dunkle Höhle, ich setzte sie auf den Rücken einer Amsel, und ließ sie über Felsen tanzen, und ich lag in der Zeit, wie in einem dichten Gewebe, das noch nicht zersprengt war, es hielt mich und schaukelte mich und wurde dünner und dünner und dahinter verrann und verrann meine Zeit, und nichts warnte mich — bis sie das Gewebe durchstieß — und kein Schrecken war jenem vergleichbar…

Ich lehnte mich an eine Hausmauer. Wenn ich mit der Hand über sie fahre, spüre ich Buckel und Täler, und sie atmet warm unter meinen Fingern.

überall sind Autos abgestellt, sie drängen sich am Kai dicht nebeneinander, stumm und tot, wenn sie der Mensch verlassen hat, in der zunehmenden Dämmerung ohne Farbe und Glanz, seltsame hohle Gehäuse, umspült vom Leben, Erwartung und den Wellen der Nacht, weniger lebendig als ein Stein am Ufer, den das Meer gerade so viel benetzt hat, daß er unter dem steigenden Mond zu schimmern beginnt.

Während ich an den Autos vorübergehe, sehe ich, wie sich in einem von ihnen etwas bewegt. Ich trete näher und erkenne eine Frau, die allein, durch die Wände des Autos von der Umwelt getrennt, wie in einer abgeschiedenen Kammer hockt und hier ihre Nacht erwartet.

Noch kann ich ihre Augen erkennen, hinter einem Schleier von Zigarettenrauch schwimmen sie auf der hellen Fläche des Gesichts… Augen, ich werde sie nie vergessen, versenkt in eine Trauer, die alle Möglichkeiten des Leiderfahrens schon hinter sich gelassen hat, so daß sie — nun nicht mehr erreichbar durch Tränen und Trost und vom Bewußtsein nicht mehr erfaßbar — unser aller Trauer zu sein scheint, die ewige Trauer der Menschen…

Es wird dunkler und die Augen versinken. Nur die Glut der Zigarette leuchtet noch. Jetzt drückt sie die Glut aus, vielleicht mitten ins nackte Herz hinein, das sie wach und brennend halten muß für ihr Schicksal. Und sie verschwindet in der Dunkelheit und taucht nur dann aus ihr hervor, wenn sie der Scheinwerfer eines vorüberfahrenden Autos trifft. Und Paare gehen vorbei und halten sich an den Händen … Gesang, beleuchtete Boote, Wein in den Gläsern … dünne Hülle der Heiterkeit… Hand in Hand und „wir beide”, sich den Abgrund verdecken und unter Küssen die Nähe der Trauer spüren …

Auf einer Bank, neben der Hafenkneipe, von einem Neonlicht einmal blau und einmal rot angeleuchtet, sitzt eine weißhaarige Alte und hält einen schlafenden Säugling im Arm. Er trägt hoch sein weißes Sonnenhütchen, das ihm fast über die Augen rutscht, schmatzt hin und wieder ein wenig im Schlaf und ruht weich und rosig in einer warmen, guten Welt.

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