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Begegnung im Juni

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Bleiben sie nicht hängen an den Bäumen, die müden, unmutigen Gedanken, die matten, klebrigen Wünsche? Die Kränkungen, die man erduldet, da schaukeln sie trübselig, an den Aesten, die Erbitterungen spannen sich von Abgrund zu Abgrund, und der Zorn leuchtet rot aus der Meerbläue der Schatten. Der Wald hat hier ein Ende und da sind Zäune, lustig durcheinandergeworfen, unbekümmert, wirr. Es riecht nach Wasser, nach Honig, nach Erzen, und plötzlich ist man auf den freien Wiesen. Noch stehen vereinzelt Bäume, die Arme ausgebreitet, beschwörend gegen den Sturm gestellt, verrenkte Lärchen, schwerleibige Fichten und die herrlichen Harfenzirben, denen der Wind wilde Gesänge entlockt. Felsblöcke sind überschüttet mit grellrosa blühendem Moos. Ja, die Weite tut-sich auf und man atmet freier. Ein Bach braust dir entgegen, er ist die vollendete schrankenlose Heiterkeit, das Brennen der Freude, das Vergangenheit und Zukunft in Asche verwandelt und dir nur noch die eine lebendige Minute zu eigen gibt.

Wunschlos versinkt man ins Jetzt, in das zauberhafte Jetzt, das einen selig umgibt. Sie flüstern dir nach, die finsteren Gedanken, aus den Wäldern kommen sie, doch ihre Stimmen sind leise geworden. Und wie sich die Weite öffnet, gleicherweise öffnet sich das Herz.

Wieder ein Zaun; eine Mauer, die aus bunten Steinen besteht. An den gebogenen Gräsern zittern Tropfen. Die Höhen sind noch fernflirrendes, zartes Gespinst. Das Gras wird ganz kurz, ein schmiegsamer Teppich unter den Füßen. Winzige Kuhsteige durchziehen es, es wölbt sich zu vielen kleinen Hügeln, Berghäupter steigen aus der Versunkenheit, mit jedem Schritt verwandeln sie sich, schieben neue Spitzen in den Himmel, es öffnen sich die Hochtäler, die Bäche zucken auf aus milder Grüne und alles ist schwebend leicht, Glanz und Licht. Wer könnte da der Schwermut verfallen, wer könnte sich da noch ernst und wichtig nehmen, da die Berge immer höher zu ragen beginnen und den Himmel stürmen! Nun sind sie körperlos, sie schwirren, sie schweben, gleiten durcheinander, und die goldbraunen Hütten atmen sorglose Heiterkeit.

Die Zeit wird sanft zerrieben, es gibt kein Gestern und kein Morgen, nur das vollendete, großartig aufglänzende Heute. Wo sind die müden Herbsttage, die sich einschleichen ins Herz, wo die strengen Tage, da bleicher Schnee niederrieselt. Das unruhige Herz, auf der Suche nach einem Schlupfwinkel, wo es bleiben kann, gibt sich zufrieden. Ein vollkommenes, ein grandioses Schweigen umhüllt die Gebirge, selbst das Gestein hat um Mitternacht seltsame Durchsichtigkeit. Alles ist ein einziger Glanz, der dich in schauriger süßer Innigkeit von der Erde losreißt und in die Himmel trägt. Wer wollte da zurück in die Täler, die in müde Bläue versinken? Und nichts geschieht auf diesen seligen Inseln der Höhen, sie sind nur Licht und Traum und Duft.

Und dennoch geschieht plötzlich etwas. Ich sitze bei einer Almhütte — sie ist noch nicht bewirtschaftet — und ruhe mich aus. Auf einmal blickt mich jemand an. Keine zehn Schritte von mir entfernt sitzt ein Wiesel, aufgerichtet, braun- -und weißgefleckt, mit unwahrscheinlich dünner Taille. Es sieht aus wie ein Hutzelmännchen, der Kopf ist der Miniaturkopf einer Buldogge, die Augen glotzen groß und feuchtbraun. Behaglich hat es die Pfoten gefaltet. Wir sehen einander an. Es machte keine Anstalten zu fliehen. Nun läßt es sich graziös zu Boden gleiten, huscht näher und beäugt mich noch intensiver. Es richtet sich wieder in die Höhe, sein verrunzeltes Gesichtchen, ist rührend zart. Ich bewege ein wenig dH Schuhspitzen, aber es legt nur sinnend den Kopf schief. Plötzlich landet es neben mir auf dem Brett, Die Augen, glänzend und etwas hervorquellend, mustern mich voll schlichter Naivität, aber auch voll listiger Lebensklugheit. Langsam klettert das anmutige Ding die Balken der Wand empor, es dreht noch einmal den Kopf und verschwindet in einem Loch. Jemand hat mich angeblickt, und während ich der siiß- gespenstischen Begegnung nachsinne, schlüpft das Wiesel wieder aus dem Loch, hält sich mit nobler Grazie an der Wand fest und betrachtet mich nun aus allernächster Nahe. Was für eine stumme Beredtheit haben die Augen, gleißend- braun wie Kastanien, die eben die Hülle sprengten!

Das Wiesel hüpft jetzt auf den Boden und scheint in die emporgehaltenen Pfoten zu kichern. Lacht es mich aus? Magische Gewalt einer wortlosen Stimme! Langsam erhebe ich mich — ja, das kleine Ding blickt mir nach! Es wiegt sich von der einen Seite auf die andere, wie jemand, den Gelächter schüttelt.

Alles scheint zu strömen; die Erde wiegt mich, sie wiegt auch die Berge, die auftauchen und selig zurücksinken in die Himmel.

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