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IN SPÄTER MONDNACHT

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War es ein Traum oder die Stunde jenes geheimnisvollen nächtlichen Webens, das einem Traum so ähnlich ist? Es schien mir, daß der fahle Herbstmond schon lange über der Erde schwebte und Lug und Trug des Tages, auch seine ewige Hast, endlich von wohltuender Ruhe abgelöst worden waren — daß an dieser Ruhe ganz Paris, bis zum letzten Bettler, teilhatte. Ich hatte lange geschlafen; schließlich war der Schlaf von mir gewichen, wie ein besorgter Arzt, der seine Arbeit getan hat und erst dann den Kranken verläßt, wenn dieser, die Augen öffnend, mit schüchterner Freude seine Wiederkehr ins Leben begrüßt.

Lautlos ging ich auf dem Teppich meines Zimmers hin und her und trat an eines der Fenster. Ich ließ den Blick durch das große vom Mond matt beleuchtete Zimmer schweifen, dann fiel mein Auge auf die Mondscheibe selbst, die mich mit ihrem Schein übergoß. Unweit von mir, ebenfalls an einem Fenster, saß, ganz in Weiß, jene, die ich liebte. Ihr Gesicht war voll Trauer; vielleicht dachte sie daran, wie es möglich war, daß gemeinsame Erlebnisse des öfteren schon unsere Gemüter verbittert hatten, ja, daß sich diese Verbitterung bisweilen sogar bis zur Feindschaft zwischen uns gesteigert hatte.

Warum schlief auch sie nicht in dieser Nacht?

Ich vermied es, sie anzusehen, und setzte mich neben sie aufs Fensterbrett... Mein Blick fiel auf die schwarze, fünf Stock hohe Mauer des gegenüberliegenden Hauses, dann auf den tiefen und engen, um diese Stunde völlig menschenleeren Korridor der Straße...

Der bleiche Mond wacht einsam über der Stadt und scheint mir ins Gesicht, als ob er über sein, durch die kommende Phase bedingtes, schon abnehmendes Rund traurig wäre.

Wie lange hatte ich schon eine solche Mondnacht nicht mehr gesehen! Meine Gedanken kreisten um die weit zurückliegenden, fast vergessenen Mondnächte, die ich einstmals, in meiner frühesten Jugend, in den hügeligen, kargen Steppen Mittelrußlands erlebte... Dort hatte der Mond über meinem Elternhaus geschienen, und dort auch hatte ich sein mildes, bleiches Gesicht kennen und lieben gelernt.

In Gedanken verlasse ich Paris, und für einen Augenblick ersteht vor meinem geistigen Auge das ganze riesengroße Rußland, als ob ich von einer Anhöhe in eine gewaltige Niederung blicken würde... Ich sehe die silbern schim-

mernde Weite des Baltischen Meeres, dahinter die dunklen, sich unendlich nach dem düsteren Osten erstreckenden Föhrenwälder; nach Süden zu tauchen von Sümpfen durchzogene Waldstreifen auf, hinter denen sich grenzenlose Felder und Ebenen ausbreiten... Über Hunderte von Werst laufen die vom Mondlicht matt glänzenden Eisenbahnschienen ... Verträumte bunte Lichter blinken entlang dieser Schienen und kommen allmählich, eins nach dem anderen, meiner Heimat näher... Und endlich geht die Landschaft in welliges Hügelland über, in dessen Mitte das altersgraue, in seiner Bescheidenheit dennoch ehrwürdige Vaterhaus im Mondlicht zu sehen ist.

Ist es denn wirklich derselbe Mond, der einst in mein Kinderzimmer schien, der mich dann als Jüngling sah und der jetzt zusammen mit mir meiner verlorenen Jugend nachträumt?

„Warum schläfst du nicht?“ hörte ich eine schüchterne Stimme.

Daß sie sich als erste nach langem, hartnäckigem Schweigen an mich wandte, traf schmerzhaft und süß zugleich mein Herz. Ich antwortete leise: „Ich weiß nicht... Und du?“ Dann schwiegen wir wieder lange Zeit. Der untergehende Mond war schon bis an den Rand der Dächer gesunken und seine Strahlen drangen tief in unser Zimmer. „Verzeih mir“, sagte ich, an sie herantretend.

Statt zu antworten, bedeckte sie ihre Augen mit den Händen.

Als ich diese ergriff und an mich zog, sah ich, daß Tränen über ihre Wangen rollten; ihre hochgezogenen Brauen bebten wie die eines Kindes. Ich ließ mich zu ihr auf die Knie nieder und preßte mein Gesicht an sie.

„Bist du denn schuld?“ flüsterte sie zaghaft. „Bin denn an allem nicht ich allein schuld?“ Dabei sah sie mich durch die Tränen bittend und zugleich hoffnungsvoll an.

Ich aber sagte ihr, daß die Schuld an uns beiden läge, denn wir hätten den Sinn des Lebens, der darin bestünde, einander Freude zu machen, mißachtet.

Wir liebten einander wieder so, wie nur jene lieben können, die gemeinsam gelitten, gemeinsam geirrt haben, dafür aber auch gemeinsam die seltenen Minuten des Glücks erleben.

Und nur der bleiche, traurige Mond sah unser Glück.

Aus dem Bussischen Ubersetzt von Ottomar Buchholz

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