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Ein „Zentralkomitee von Aufwieglern“

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Die zweite Welle der Entstalinisie- rung hat Togliatti und die italienischen Kommunisten genau so unvorbereitet gefunden wie die erste. Der Bericht des Parteiführers ist eine seltsame und für den Außenstehenden auch amüsante Mischung von Lobhudelei für die derzeitigen Walter und Lenker im Kreml und Unmutsausbrüchen, auch wenn diese, dem Temperament Togliattis entsprechend, so gezügelt sind, daß der giftige Stachel kaum mehr zu erkennen ist. Um so freimütiger haben sich die zur jungen Generation gehörenden Mitglieder gegen das Erbe Stalins ausgesprochen. Aber ihr Eintreten für eine bis zu den äußersten Konsequenzen getriebene Kritik am Stalinismus ist auch gegen den seit drei Jahrzehnten unumstrittenen Parteiführer gerichtet, und jeder gegen Moskau abgesandte Pfeil mußte auch diesen treffen. Die Schärfe ihrer Kritik läßt sogar den Verdacht aufkommen, daß das eigentliche Ziel Togliatti ist und die Debatte nur den geeigneten Fechtboden für machtpolitische Auseinandersetzungen in der Partei abgeben sollte. Auch der Parteisekretär mußte das in einem ge wissen Augenblick erkannt haben, denn ihn verließ plötzlich die beinahe sprichwörtliche Ruhe und Gelassenheit, er sprang wütend auf und schrie: „Das ist ein Zentralkomitee von Aufwieglern !"

Der heute 68jährige Parteiführer hat nichts von seinen alten Kampfgenossen, wie Longo und Scoccimario, zu befürchten, die ebenso wie er von stalinistischer Vergangenheit belastet sind, aber die Jungen, wie Amendola, brauchen sich in dieser Hinsicht keine Rücksichten aufzuerlegen. Wegen der hervorragenden politischen Stellung, die Togliatti gerade in der Periode der schlimmsten Exzesse des Stalinismus in der Sowjetunion innegehabt hat, würde es ihnen auch nicht schwerfallen, eine mehr als nur moralische Mitverantwortung an der großen Säuberung festzustellen. Die Anklage würde dann ganz anders klingen als die von Barca im ZK, der sich „gegen alle, die Stalins Regime gesehen und verherrlicht haben“, gewandt hat. Togliatti war zum Beispiel im Jahre 1937 Vorsitzender jener Sonderkommission des Exekutivkomitees der KomFreiheit müssen in der sozialistischen Gesellschaft als Institution verankert werden.“ Natoli forderte geradezu die Einberufung eines außerordentlichen Parteikongresses, da die Grundlagen der gegenwärtigen Politik der KPI zur Debatte stünden, eine Forderung, von der sich in dem von Togliatti redigierten Kommunique kein Wort mehr findet. Doch der Aufmarsch der Kritiker dauerte fort. Giancarlo Pajetta stellte die Sentenz auf: „Dem Personenkult geht der Kampf gegen die Opposition voraus.“ Auch Togliatti hatte seinen hübschen Anteil am Personenkult: im Kaukasus trägt heute noch eine Bergspitze den Namen Ercoli (Togliattis Pseudonym in der Zeit der Emigration: Ercole Ercoli). Terracini, ein alter Leninist, sandte auch einen Pfeil gegen Chruschtschow ab: „Man muß sich die Frage vorlegen, ob nicht in der Zukunft Anklagen erhoben werden könnten, die vielleicht sogar vor Genossen Chruschtschow nicht haltmachen.“ Aber gleich gab er sich selbst die Antwort: „Nun, es muß gesagt werden, daß auch Chruschtschow zu Stalins Führerstab gehört hat und mit ihm die Verantwortung teilt; was Chruschtschow heute rettet, ist die Tatsache, daß er sich an die Spitze des Kampfes für die Änderung des stali- nistischen Systems gestellt hat.“

Die Spitze der KPI erscheint also geteilt, die Krise, die 1956 aufgeschoben werden konnte, ist 1961 ausgebrochen; um sie zu überwinden, bedarf er keiner „tranquilizers“, sondern stärkerer Medizinen, die freilich in ihrer Anwendung nicht ungefährlich sind. Denn der polizentrische Kommunismus kann zur Sektenbildung führen und die Demokratisierung in der Partei zur Sozialdemokratisierung. Das Spiel mit Rede und Gegenrede, mit Gruppen, mit Mehrheit und Minderheit kann die Grundlagen des Kommunismus erschüttern, der auf der Unterdrückung der Demokratie in unserem Sinn beruht. Und man weiß nicht, was die „Jungen“ noch alles im Sinn haben, fordern sie doch jetzt sogar die Rehabilitierung Trotzkis.

Eine andere Frage ist allerdings, wieweit sich die ideologischen Auseinandersetzungen an der Parteispitze auf die Wählerschaft auswirken. Alle bisherigen Erfahrungen zeigen, daß die große Masse der kommunistischen Wählerschaft, mehr als sechs Millionen Stimmen, auf theoretische Fragen ,in keiner Weise anspricht. Weder die erste „Entstalinisierung“ noch die Unterdrückung des ungarischen Freiheitswillens hat sichtbare Spuren am Wahlkörper der KPI zurückgelassen. Dies ist merkwürdig, weil die Anzahl der eingeschriebenen Parteimitglieder im Gegensatz dazu ständig absinkt. 1952 waren es 2,5 Millionen gewesen, 1956 2 Millionen,’ 1960 1,789.000, und im letzten Jahr ist eine weitere Verminderung eingetreten um 3,4 Prozent: 1,728.000. Die Erklärung dafür ist, daß die Wähler die KPI weiterhin als das wirkungsvollste Werkzeug im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit betrachten. Die KPI erntet die Stimmen des Protests, während in ihren eigenen Reihen das Vertrauen verlorengeht.

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