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Geistige Begegnung mit Ägypten

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DER TOD DES WASSERTRÄGERS. Ägypten in Erzählungen seiner besten zeitgenössischen Autoren. Herausgegeben von Hermann Ziock. Horst-Erdmann-Verlag, Herrenalb/Schwarz- wald. 367 Seiten. Preis 18.60 DM.

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DER TOD DES WASSERTRÄGERS. Ägypten in Erzählungen seiner besten zeitgenössischen Autoren. Herausgegeben von Hermann Ziock. Horst-Erdmann-Verlag, Herrenalb/Schwarz- wald. 367 Seiten. Preis 18.60 DM.

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Als der Band I der Buchreihe „Geistige Begegnung“ des Instituts für Auslandsbeziehungen, Stuttgart, unter dem Titel .„Der sprechende Pflug“ Gegenwartsautoren Indiens vorstellte, war das bereits ein Ereignis, und Margret Boveri meinte, falls die künftigen Bände dasselbe Niveau erreichten, seien die Leser zu beglückwünschen. Nun, der zweite Band, „Llano Grande“, mit seinen großartigen mexikanischen Erzählungen hielt, was der erste versprochen hatte, und fügte dem Wirken des Wiener Herausgebers W. A. Oerley, der auch für Bänd I verantwortlich gezeichnet hatte, ein neues’ Ruhmesblatt hinzu, das sein Gespür für Qualitäten fremden Geistgutes einmal mehr unterstrich. Band III brachte den Roman „Alle warten auf morgen“ des Inders Bhattatscharya, dessen Hintergrund die Gegenwartsprobleme des Landes bilden, während das vorliegende Buch als Band IV die Reihe der Erzählungsbände glücklich forteetzt.

Die nächstfolgenden Bände werden Erzählungen aus der Türkei, Argentinien, Japan, Brasilien, Israel und Nordafrika enthalten. Da das Unternehmen ausreichend fundiert erscheint und die Erfassung der Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas lückenlos erfolgen soll, wächst hier eine Bibliothek heran, die ein Gegenstück der weltberühmten Sammlung der Volksmärchen der Völker bei Diederichs werden könnte: zur Freude des Lesers überhaupt, des Kulturgeschichtlers, Literaturwissenschaftlers und Ethnologen im besonderen, wobei auch die Funktion als Bildungsmaterial für eine weltoffen zu erziehende Jugend nicht aus dem Auge zu verlieren wäre.

Die ägyptischen Erzählungen, eingeleitet von Ziock, der seine Materie beherrscht, eröffnen uns, abgesehen von ihrem fast ausnahmslos hohen literarischen Wert, einen Blick in das heutige Reich am Nil, wie er fesselnder und informativer kaum gedacht werden kann. Die junge ägyptische Literatur ist, während das Volk mit allen Plagen geistigen und sozialen Umbruchs beschäftigt ist und der vor allem politisch wirkende Staat sich um Kunst und Kultur vorläufig wenig zu kümmern scheint, hauptsächlich auf Zeitungen und vereinzelt erscheinende Bücher verwiesen. So fließt der Strom der modernen Erzählung, die nach jahrhundertelanger Erstarrung in tradierten Formen der arabischen Märchen- und Palastgeschichte neue Gestaltungsprinzipien suchte, mit der Spontaneität eines Wildbachs. Die Autoren haben allerdings westliche Vorbilder. Das bedeutet jedoch nicht blasses Epigonentum, da der ägyptische Erzähler, von der Entdeckung einer literaturfähigen Gegenwart gleichsam berauscht, kraftvoll in die Fülle des Lebens zu greifen weiß. Zittert auch die Erregung der Umwälzungen seit der Abschaffung des dekadenten Königtums noch nach, so vollzieht sich dies doch nicht als engagierte Literatur, sondern im Rhythmus und im Ton, im Milieu und in der Gestaltenwahl, die vornehmlich die einfacheren Schichten mit ihren naiven Leidenschaften und Sorgen erfaßt, mit all ihrem Lebensreichtum unter heißer Sonne und ohne jegliches Bewußtsein, historischen Erbschaften altarabischer oder gar altägyptischer Kultur verpflichtet zu sein.

So ist es nicht der Märchenzauber, den der uninformierte Europäer erwarten mag, sondern die aktuelle Stunde, an der sich die faszinierende Erzählergabe des Ägypters entzündet, und wir werden Zeugen der Entstehung von etwas völlig Neuem: der rationalistisch-nüchternen Geschichte, geboren aus dem Realismus des Alltags, als Auswirkung einer Geistes- und Seelenlage, wie sie hier noch nie bestand. Im Innersten des bewegt sich tummelnden Geistflusses dieser an sich selbst abenteuernden Literatur sind es die großen Grundkräfte des Menschen schlechthin, sind es Hunger, Liebe, Armut, Familie und schlichte Nachbarschaftsbeziehungen, die den Kern der Impulse bilden — als Signale gleichsam der Rückkehr hinter einen geschichtslosen Zustand. Hier ist alles offen, auch das Klima der Beziehungen zu anderen Völkern und Kontinenten, auch die Konfrontation mit der eigenen Geschichte und der Geschichte, den Triebkräften und den wirksamen Geistesmächten der Menschheit schlechthin. ... A£A

Diese Phänomene machen den Band über das Lesevergnügen, das er bietet, zu einer Dokumentation, die ihresgleichen sucht, zur Kontur eines Modellfalls, wie er uns im Zug der Emanzipation zahlreicher weiterer Völker aus Feudalismus oder fremder Vormundschaft in naher und ferner Zukunft noch häufig begegnen dürfte.

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