6648868-1958_41_04.jpg
Digital In Arbeit

KARL JASPERS / DEUTSCHER DENKER DER FREIHEIT

Werbung
Werbung
Werbung

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 195S wurde am 28. September in der Paulskirche in Frankfurt, einem Wort von Theodor Heuss folgend, dem „ausgezeichneten literarischen Werk“ und „einer Bewährung im tätigen und erlittenen Leben“ verliehen: Karl Jaspers. Der „große alte Mann“ der deutschen Philosophie wurde 1883 in Oldenburg geboren, ging dort unter dem klaren, hohen und kühlen Himmel in das Gymnasium, das in seinen Jahren auch Rudolf Bultmann, den bedeutenden protestantischen Theologen, und später Hermann Ehlers, den unvergeßlichen protestantischen Mitbegründer der CDU und Bundestagspräsidenten erzog. Jaspers studierte die Rechte und Medizin, wurde Psychiater in Heidelberg, daselbst 1916 Professor, ging dann ins philosophische Lager über, 1921 bis zur Aufhebung seines Lehrstuhles durch das NS-Regime 1937 Ordinarius in Heidelberg, liest er hier wieder seit 1945/46, geht 1948 nach Basel, wo er heute noch lehrt.

Aeußerlich betrachtet: das akademische Leben eines deutschen Gelehrten aus gutbürgerlichem Haus, in dem protestantische Gewissenhaftigkeit, die Liberalität der Vorkriegszeit und ein stolzes Sich-Genügen mit der eigenen Arbeit und Pflichterfüllung herrschen. Der Raum seiner Werke aber zeigt, wie dieser scheue, zurückgezogen lebende Mensch, Arzt und philosophische Seelsorger von Natur aus, innerlich immer tiefer in die Auseinandersetzung mit der Zeit gerät. Es ist ein langer Weg von der „Allgemeinen Psychopathologie“ von 1913 (Neuauflage 1947), der „Psychologie der Weltanschauungen“ (1919) zu seiner dreibändigen „Philosophie“ von 1923, zur Warnung an die Deutschen 1931: „Die geistige Situation der Zeit.“ Max Weber erweckt in ihm das politische Ethos, das nunmehr in einer Reihe von

Schriften bis zur Auseinandersetzung mit der Atombombe und dem, was im Menschen die Bombe schafft, zum Ausdruck kommt. Daneben stehen nach wie vor die „rein philosophischen Schriften“, in denen sich Jaspers bemüht, die Freiheit des philosophischen Denkens wider alle Mächte der Zeit zu verteidigen. Jaspers ist einer der „unangenehmsten“ Kritiker der Christentümer unserer Zeit, gerade weil er aus einem tiefgläubigen christlichen Ethos paulinischer Prägung herkommt. Die christlich-konfessionelle Auseinandersetzung mit ihm steht noch in den Anfängen. Aufsehen erregte 1954 seine eigene Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann. Unbequem ist dieser große Unabhängige nicht zuletzt auch den Politiseuren des Tages. Da geben wir ihm aber am besten selbst das Wort: seine Dankrede in der Paulskirche am 28. September, übertragen durch alle deutschen Sender, war ein Ereignis. Jaspers hatte sich das Thema gewählt: „Wahrheit, Freiheit und Friede.“ „Friede ist nur durch Freiheit, Freiheit nur durch Wahrheit möglich. Daher ist die Unwahrheit das eigentlich Böse, jeden Frieden Vernichtende: die Unwahrheit von der Verschleierung bis zur blinden Lässigkeit, von der Lüge bis zur inneren Verlogenheit, von der Gedankenlosigkeit bis zum doktrinären Wahrheitsfanalismus, von der Unwahrhaftig-keit des einzelnen bis zur Unwahrhaftigkeit des öffentlichen Zustandes.“

Letzteren erörterte er an einigen Beispielen. „Die politische Erziehung ist noch kaum in Gang gekommen und scheint in der Propaganda zu den Wahlterminen vollends verloren zu gehen. Die Idee der Demokratie verlangt die Fühlung der Staatsmänner mit dem Volke. Ohne das ist Demokratie nur als parteiliche Vorbereitung und als Manipulation der Abstimmungen da.“ — „Wo die neue politische Konzeption noch ausbleibt, da herrschen zum Ersatz der Vergangenheit entnommene Fiktionen.“ — „Heute, unter neuen Weltmächten in völlig verwandelter Weltlage ist der Bismarck-Staat ganz und gar Vergangenheit. Wenn wir leben, als ob er noch einmal wieder wirklich werden könnte, lassen wir Gespenster das Blut der Gegenwart trinken und verhindern, die realen Gefahren und die großen Möglichkeiten der Zukunft zu begreifen.“

Diese Kostprobe dürfte fürs erste genügen. Sie zeigt: im Deutschland von 1958 hat der „große alte Mann“ des philosophischen Denkens warnend seine Stimme erhoben, wie 1931. Wird man ihr heute mehr Gehör schenken als damals?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung