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Michelangelo

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Fremd and bizarr in dem bunten Gewirr südländischer Pracht- und Profanbauten, doch freundlich und vertraut unserem Auge, erhebt sich unweit des Pantheons die einzige gotische Kirche Roms: Santa Maria sopra Minerva.

Mögest du, Pilger oder Wanderer, der du die durch den Glauben der Jahrtausende geheiligte und den auserlesenen Geschmack schönheitstrunkener Fürsten geadelte Stadt am Tiber betrittst, nicht versäumen, jene Kirche aufzusuchen, in der ein Werk von eigenwilliger Schönheit den Beschauer überrascht, befremdet und entzückt zugleich: der steinerne Christus Buonarottis.

Mögen dir dann, da sich die erlöschende Glut der südlichen Sonne mit dem fahlgelben dunstumrandeten Kerzenschein im Inneren des Gotteshauses zu andachtsschwangerem Zwielicht paart, die Geister des Ortes ich hold erweisen und herabrufen den Geist des Mannes, der diesem Raum seine Weihe gab: den Geist des Bildhauers und Baumeisters Michelangelo, den Geist des Malers und Dichters Michelangelo, den Geist — des Menschen Michelangelo.

Päpsten und Fürsten ein Freund, doch einsam in seiner Große, ein Flüchtling, ein Fremder tn dieser Stadt wie in dieser Welt. Einer der Größten seines Jahrhuncilerts, ein Riese, ein Gigant. Und doch nur ein Mensch!

Liebend und leidend wie. unzählige andere; leidend vor allem. Und doch anders leidend als diese unzähligen anderen. Er, der die Spuren einstiger Mißhandlung als die Zeichen von Bosheit und Gewalt einer von ihm verachteten Welt im Gesichte trug, hatte es in seinem vom Leid so reich gesegneten Leben verstanden, jenes aus der Sphäre persönlichen Erlebens in die allgemeine menschlicher Gültigkeit emporzuheben und damit seinem Leben weihevolle, höchste Vollendung gegeben. Und so war die Gestalt der Pietä im Laufe der Jahre und der Jahrzehnte immer mehr das Sinnbild seiner inner ! Haltung geworden, denn zu bedeutend, zu umfassend war dieser Geist, um das Leid dieser Welt zu übersehen, zu tief, um achtlos darüber hinwegzuschreiten.

Vergeblich hatte er nach einem festen Punkt in seinem Inneren gestrebt, um eine mechanische Welt aus den Angeln zu heben und so den geistigen Sinn des Weltgeschehens zu erfassen. Immer wieder hoffte er, dieses Leben geistig, künstlerisch meistern zu können und dennoch — oder vielleicht gerade deshalb — glich seine Kunst einer Flucht vor dem Leben.

Trotzdem war er stark genug geblieben, um nicht an dem von ihm gemiedenen Leben zu zerbrechen, wie andere ihm verwandte Naturen, die sich im eigenen, durch seine abgründigen Tiefen gefährlich machtvoll gewordenen Ich verloren oder den Kampf vorzeitig abbrachen, so hoffend, dem grausam-sinnlosen unrühmlichen Spiele ein durch die gedankliche Größe seiner Beweggründe und ihrer unerbittlichen Folgerichtigkeit einigermaßen rühmliches, wie notwendig gewordenes Ende zu bereiten. Nein! Er hatte den Mut besessen, weiterzuleben, obwohl er das Leben zu erkennen oder doch wenigstens zu durchschauen vermeinte. In den Stunden des Mißmutes, des Mißtrauens in die eigene Kraft und der Verzweiflung, war ihm allmählich die immer stärker werdende und sich schließlich zu der freudigen Gewißheit wandelnde Erkenntnis gekommen, daß die Quellen seines schöpferischen Genies keineswegs an der Oberfläche des träge und gleichförmig dahinfließenden Lebens, sondern in einer von Gott, dem lebendigen, persönlichen und dreieinigen Gott nur wenigen Sterblichen zuteil werdenden Gnade lagen, die, Geschenk und Verpflichtung zugleich, leidvolles Glück in überreidiem Maße für den Künstler wie für den Menschen bedeutete.

Und in der Tat! Er hatte gezeigt, daß Kunst mehr war und sein mußte, als bloße Kunstfertigkeit, künstlerisches Schaffen mehr als nur spielerische Beschäftigung mit dem Schönen, und daß die Vollendung der Kunst in der Beziehung des Menschen zum Ewigen, zum Unendlichen, zu Gott lag. Seine Gestalten waren nicht mehr Lebewesen aus Fleisch und Blut, die einstmals auf dieser Erde gelebt hatten, das waren die Vertreter und Künder eines höheren, dem menschlichen Leben übergeordneten Prinzips. Symbole waren sie, menschliche Symbole der göttlichen Macht; ihm war es gelungen, wonach Generationen von Auserwählten vergeblich gestrebt hatten: das ewig Unfaßbare in menschliche Anschauungsformen zu zwingen und damit, das Übersinnliche vor aller Welt sichtbar werden zu lassen.

Und wenn das in titanenhaft-tragischer Vereinsamung bis zur Neige ausgekostete Leid wesensgestaltender innerer Ausgangspunkt seines Schaffens geworden war, so deutet das blasse Antlitz des Erlösers in der Kirche Santa Maria sopra Minerva den letzten erhabenen Sinn und Gehalt der Kunst Michelangelos: sein Streben nach Höherem, sein Sehnen nach dem Ewigen, seinen Schrei nach Gott.

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