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OLIVEIRA SALAZAR / DAS PORTUGIESISCHE ERDBEBEN

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Am 1. November l1'55 wurde Lissabon durch ein furchtbares Erdbeben verwüstet. Dieses Erdbeben machte die schwerste innere Krise des europäischen 18. Jahrhunderts offen sichtbar: die Krise des europäischen Christentums. Kant, Voltaire, die führenden Denker und Theologen ganz Europas, von England bis Königsberg, von Paris bis St. Petersburg, eröffneten in bezug auf das Erdbeben von Lissabon eine erregte Diskussion: Gibt es eine Vorsehung? Gibt es einen persönlichen Gott? Wenn ja, warum läßt dieser es zu, daß hunderttausend Kinder, Greise, Priester, Nonnen, Menschen in einem Herzschlag von einer solchen Katastrophe hinweggerafft werden.

Das portugiesische Erdbeben der Jahreswende 1961/62 ist in seinen europäischen und globalen Wirkungen noch nicht abzusehen. Die portugiesische Tragödie ist eng verknüpft mit der tragischen Gestalt des Professors Dr. Oliveira Salazar, des Ministerpräsidenten und Staatsführers Portugals. Dieser Mann wurde in karger, armer portugiesischer Provinz, in Beira-Alta, im Dorfe Vimiero, am 28. April 1889 als einziger Sohn einfacher Landleute geboren. Genau acht Tage also nach Hitler: „Ein Armer und Sohn eines Armen“, so nennt sich Salazar selbst gerne — er hat nichts gemein, in seinem persönlichen Naturell, mit den westlichen und östlichen Diktatoren unserer Zeit. Wohl aber hat er sehr viel gemeinsam mit den hohen und höchsten und besten Bürokraten des aufgeklärten Absolutismus des 18. und frühen 19. Jahrhunderts.

Im Oktober 1900 tritt der /ge Salazar in das Priesterseminar von Vizeu ein. In seinen achtfährigen Studien hier erweist er sich als bestausgezeichneter Schüler, wenig beliebt bei Lehrern und Mitschülern.

Salazar erhält die niederen Weihen, wird aber nicht Priester, sondern studiert in Coimbra, der altehrwürdigen Universität. Noch Student, wird er beauftragt, die Vorlesungen eines verstorbenen Lehrers über Wirtschafts- und Finanzpolitik fortzusetzen. „Nicht, daß ihn seine Schüler vergöttert oder besonders geliebt hätten ... Nie schüttelte der junge Doktor, so wie es seine Kollegen im Lehramt taten, seinen Hörern am Ende der Vorlesung die Hand, nie urteilte er über die Antworten seiner Schüler in erläuternder Zwiesprache.“ So Hans Sokol in „Salazar und sein neues Portugal“, einem panegyrischen Werk.

Aus einer schier unendlichen Einsamkeit und Distanz kommen seine Reden: knappe Anweisungen an die „Nation“, was sie zu tun, zu kämpfen, zu leiden hat.

Es gehört mit zur Tragödie dieses Mannes, daß gerade Soldaten dies Leiden und Dienen in den Räumen, den Raumresten des portugiesischen Imperiums, nicht mehr ganz verstehen. Salazar ist zutiefst überzeugt: Goa, Angola sind Provinzen Portugals, untrennbar ihm zugehörig. Hier gibt es für ihn kein Zurück: 'jede Übergabe einer „Provinz“ würde für ihn Selbstauflösung des Staates bedeuten. Seines Staates, den er gebaut hat, als eine Diktatur des Rechts-, als ein aufgeklärt-christliches Erziehungswerk, das Ruhe, die Ruhe von Jahrzehnten, vielleicht von Jahrhunderten brauchen würde. Eben diese Ruhe ist nicht gegeben. Weder im Inneren noch im Äußeren. Salazar kann als Vertreter eines im letzten ungeschichtlichen Rechtsdenkens nicht verstehen, daß Geschichte Leben im Wechsel und Wandel ist. Er versteht deshalb seine innenpolitischen Gegner und außenpolitischen Feinde wesenhaft als Unruhestifter und Bösewichte. Hier hat sich dieser Mann selbst seine Grenze gesetzt.

Über diese Grenze wird Portugal morgen hinausschreiten müssen. Salazar selbst sagt diese Aufgabe einer künftigen Regierung an: Sie muß Vertrauen in das Volk haben und es im Volk erwecken, denn „der einzige Weg, eine nationale Krise zu lösen, besteht darin, daß man dem Volk die Fähigkeit zutraut, wieder zu gesunden, und nicht glaubt, das Land sei bereits so gut wie tot“. Wird Salazar selbst, der Mann, der sich seit frühester Kindheit nicht geändert hat, diese innerste Mobilmachung der innersten Kräfte des portugiesischen Volkes — sie allein kann die große Krise meistern — durchführen, ja nur wünschen? Die Geschichte wird bald eine Antwort auf diese Frage geben.

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