Schwarz oder weiß? Toni Morrisons Erzählung "Rezitativ"
Die unselige Verbindung Hautfarbe = Charakter wurde auch durch Literatur hergestellt. Mit ihrer bereits 1983 erschienenen Erzählung „Rezitativ“ lädt Toni Morrison zu einem eindrücklichen Selbstexperiment ein.
Die unselige Verbindung Hautfarbe = Charakter wurde auch durch Literatur hergestellt. Mit ihrer bereits 1983 erschienenen Erzählung „Rezitativ“ lädt Toni Morrison zu einem eindrücklichen Selbstexperiment ein.
Man kennt, leider, Sätze wie diesen: „dass die sich nie die Haare waschen und komisch riechen“. Und seien sie einem, aus guten Gründen, auch zutiefst zuwider: Hand aufs Herz, welche Bilder entstehen im Kopf bei einem solchen Satz, wen sieht man?
Es ist erstaunlich und erschreckend, wie sehr auch bei hohem Reflexionsvermögen oder Bildung die Bilder, die Menschen sich voneinander machen, von Traditionen geprägt sind, die voll sind mit Vorurteilen und Stereotypen. Charakteristika, Eigenschaften, Attribute, bestimmte Handlungen werden Gruppen zugeschrieben, als wären sie ihnen biologisch und wesenhaft zugrundegelegt, als wären es nicht kulturell weitergegebene Erzählungen, die selbstverständlich vor allem auch dazu dienen, einander abzuwerten. Derart geordnet lebt es sich nämlich besser. Das eigene Ich wird stabilisiert, man versichert sich der eigenen Normalität, und man hält eigene Ohnmacht und Unterdrückung besser aus, wenn man selbst wiederum andere abwerten und unterdrücken kann.
Leider ist das so. Man ordnet und kartografiert Menschen nach Herkunft, Hautfarbe, Vermögen, wonach auch immer. Theoretisch aber würde wohl fast jeder empört von sich weisen, dass dies einen selbst betrifft; nein, selbstverständlich sei man zum Beispiel: kein Rassist.
Starke Wirkung
Wie sehr und stark aber all die übernommenen Zuordnungen ständig auf die eigene Sichtweise einwirken, das erfährt man nach der Lektüre von Toni Morrisons schmaler Erzählung „Rezitativ“ tatsächlich besser als aus einem Theoriebuch zum Thema. Weil dieser Text so gebaut ist, dass er während der Lektüre bei den Leserinnen und Lesern die Fragen entstehen lässt: Ist Twyla schwarz oder weiß? Ist Roberta schwarz oder weiß? Was ist typisch schwarz? Was ist typisch weiß? Und das, ohne dass Morrison ein einziges Mal solche Fragen stellt. Aber der Text macht, dass man lesend nach Spuren sucht, nach Indizien: Das ist doch eine typische Eigenschaft von schwarzen Menschen, das ist doch typisch für einen weißen Blick usw. – und immer mulmiger wird einem, sobald man das bemerkt. Die Hauptfigur in diesem literarischen Experiment ist, so könnte man sagen: man selbst.
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