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Unter diesem Gesichtspunkt…

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Böll: ZUM TEE BEI DR. BORSIG. — Doderer: EIN MORD, DEN JEDER BEGEHT. - Hildesheim: LEGENDE VON DEN HEILIGEN DREI KÖNIGEN (dtv-Ausgoben). - Rimbaud: BRIEFE — DOKUMENTE. — Ne her: MOSES. — Moravia: CESIRA (rororo- Ausraben). — Framen: AUFKLÄRUNGEN. — Turnier: NACHPRÜFUNG EINES ABSCHIEDS (edition suhrkamp).

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Böll: ZUM TEE BEI DR. BORSIG. — Doderer: EIN MORD, DEN JEDER BEGEHT. - Hildesheim: LEGENDE VON DEN HEILIGEN DREI KÖNIGEN (dtv-Ausgoben). - Rimbaud: BRIEFE — DOKUMENTE. — Ne her: MOSES. — Moravia: CESIRA (rororo- Ausraben). — Framen: AUFKLÄRUNGEN. — Turnier: NACHPRÜFUNG EINES ABSCHIEDS (edition suhrkamp).

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Alte und neue Hörspiele von Heinrich Böll verbreiten die bohrende Unruhe, die den Bürger in uns aufspürt und das christliche Gewissen kitzelt. Ein paarmal kräftig niesen trägt zur Gesundung bei. — Doderers Edelkrimi weckt Vertrauen zur Sprachraffinesse des vielgepriesenen Wieners. Der Spiegel der -Dämonie zeigt immer ein Stück eigenes Antlitz. — Solcher Lektüre läßt man zum Ausgleich den neuen deutschen Text einer lateinischen Inkunabel von 1477 folgen. Johannes von Hildesheim ging den Tatsachen und Legenden um die Weisen aus dem Morgenlande nach und komponierte daraus mit theologischem Geschick und dichterischer Freiheit diese sonderbare Geschichtensammlung, die sich heute noch sehr lebendig liest. — Rimbauds Briefe und Lebensdokumente sind Zeugnisse eines genialen Halbstarken. Die zersetzende Egozentrik und eine luzide Brutalität machen die schillernde Lyrik dieses Frühvollendeten, der charakteristisch auf die Moderne abfärbte, verständlicher. Sehr interessant die nüchtern-zärtliche Bindung Rimbauds an die Mutter. — Andrė Nehers Monographie über Moses berücksichtigt besonders die Gegenwartsbezogen- heit der biblischen Gestalt Doku-

mente der Archäologie und der Kunst mehrerer Epochen illustrieren das im Stil der einschlägigen Sachbücher geschriebene Werk. — Moravias „Cesira“ hat als Gestalt des Neoverismus auch in unseren

Breiten Popularität erlangt. Eine an Malaparte gemahnende Vorliebe für grausame und erotische Szenen machen den Roman zu einer Lektüre für belastungsfähige Nerven. — Ausgesprochene Feinschmeckerkost sind die literarischen Essays von Erich Franzen. Die Klugheit dieses Kopfes überragt landläufige Einsichten. Man genieße sie in mäßigen Dosen! — Franz Turniers Erzählung ist der sauberen Prosa der psychischen Konstellation wegen des Lesens wert.

Taschehbücher erlauben dem Rezensenten nur Andeutungen. Aber auch diese können mitunter genügen, mit geistigem Mut und wenig Geld einen Tag zum großen Gewinn zu machen.

GESICHTSPUNKTE. Von Sigismund von Radecki. Jakob-Hegner-Verlag, Köln. 28 Sei. ten. Preis 18.80 DM.

Der vom Illustrierten- und Fem- sehgenuß verwöhnte Zeitgenosse hat seltsamerweise das Sehen verlernt. Tausend Augen sehen für ihn, und er konsumiert die fertigen Bilder. Einen eigenen Gesichtspunkt zu beziehen fällt ihm schwer. Und doch ist dieser eigene Gesichtspunkt die Voraussetzung für ein richtiges Sehen. Sigismund von Radecki hat es sich ausgedacht, nicht Bilder, sondern Gesichtspunkte zu liefern — und er gibt damit förmlich eine neue Vorstellung der Welt.

Diese Gesichtspunkte sehen alle recht einfach aus. Aber erst allmählich und im Nachvollzug der Meditationen merkt man, daß hier eine in unseren Tagen außerordentlich seltene Doppelbegabung am Werke ist: Tiefe im philosophischen, im literarischen, im theologischen, im historischen Sinne — und Oberfläche im heiteren Dekor, in feuilletonistischem Können, im sprachlichen Effekt. Der Autor wird wegen dieser besonderen Kom bination der Gaben von Kennern schon seit langer Zeit geschätzt.

Der Band schreitet ein weites Rund aus. Vermutlich mit Absicht stehen heiß und kalt dicht beieinander und sind die Themen nicht in auf- oder absteigender Linie geordnet. Einigen Essays merkt man an, daß sie zu bestimmten Anlässen geschrieben wurden, und hätte es begrüßt, Zeit und Zeitung der ersten Publikation zu erfahren.

Die Gesichtspunkte Radeckis lenken den Blick — gerade in diesem Buch — öfter über die irdischen Dimensionen hinaus in die christliche Metaphysik. Dabei erweist sich, um wieviel glaubwürdiger die Apologetik eines Künstlers als die Kunst der Apologeten ist. In der Auseinandersetzung mit dem Atheismus werden dessen klassische Spielarten mehr berücksichtigt als die gefährlicheren modernen Modifikationen.

Das Elegische und Melancholische ist diesem Buch fremd. Denn selbst Abschied und Vergänglichkeit können vom leisen Lächeln der Selbstironie verklärt sein, wenn man den rechten Gesichtspunkt wählt. Nur eine Verlagsmitteilung, die dem Werk beigegeben ist, stimmt nachdenklich. Sigismund von Radecki feierte seinen 70. Geburtstag. Auch unter diesem Gesichtspunkt sind die Gesichtspunkte zu lesen.

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