6650672-1958_51_13.jpg
Digital In Arbeit

Unzulänglichkeit des menschlichen Herzens

Werbung
Werbung
Werbung

Man kennt aus d'Otrements früheren Romanen seine ungewöhnliche Fähigkeit, seelische Geschehnisse, Empfindungen des Herzens, aufzuspüren und zu entwickeln. Die äußere Handlung tritt bei ihm gegenüber den inneren Begebenheiten völlig in den Hintergrund, ist lediglich sehr sparsam verwendete Kulisse.

Diese Art der Betrachtung und der Gestaltung finden wir noch ausgeprägter und entschiedener in dem neuen Buch „Die Polin“ wieder. Den Stoff für diese Lebensbeichte einer unglücklichen Frau hat d'Otrement von Benjamin Constant entnommen, der 1816 in seinem Roman „Adolphe“ die Geschichte seiner Liebe zu Frau von Stael gestaltet hat. Aber, so weitgehend sich d'Otrement in allen Einzelheiten auch an Constant hält, seine Perspektive ist eine völlig neue, das Geschehen verwandelnde, tiefer begreifende und begründende, dadurch daß er die irdischen Verstrickungen in ihrer metaphysischen' Verflochtenheit sieht. Ein anderer entscheidender Unterschied gegenüber Constant, der in dem reuevollen Rechenschaftsbericht des beteiligten Mannes zugleich seine Rechtfertigung versucht, ergibt sich bei d'Otrement insofern, als bei ihm die Frau zu Worte kommt, alle Geschehnisse nun vom weiblichen Blickpunkt gesehen und damit in ein neues Licht gerückt werden.

Seine Ellen, eine Polin aus den Kreisen der Hocharistokratie, wird als junges Mädchen verführt. Dieses Ereignis ist der Ausgangspunkt ihrer weiteren unglücklichen Entwicklung. Sie wird — es scheint der einzige Ausweg aus einem verpfuschten Leben! — die Mätresse eines angesehenen, einflußreichen und rücksichtsvollen Mannes, der ihr Sicherheit, Schutz und eine gesellschaftliche Stellung bietet. Aber Ellen liebt ihn nicht und verstrickt sich nach einigen fahren in eine Leidenschaft, der sie alles opfert: den Mann, der sie liebt, ihre Kinder, ihre Ehre, ihre Freiheit, ihre Stellung in der Gesellschaft.

Alle Stadien dieser großen Liebe werden in ihren Bekenntnissen geschildert — vom glücklichen rausch-haften Beginn bis zur Ernüchterung und schließlich dem bitteren Ende; ewige Gesetzlichkeiten in der Beziehung der Geschlechter, die Selbstentdeckung der Frau und die Entschleierung eines wankelmütigen unbeständigen Mannes, der Ellen doch bis zu ihrem Tod unentbehrlich bleibt.

„Ich liebte Rudolf nicht seiner Verdienste wegen, ich liebte ihn um seines Wesens willen. Er hatte die Gabe, mich für die Grundwirklichkeiten und alle Schönheiten des Alls empfänglich zu machen. Mußte er da für mich ohne Fehler sein?

Doch er, hat er mich je geliebt? Ach, ich glaube nickt, da er immerzu das Glück in sich suchte. Ich muß. darum, ehe ich sterbe, bereuen, weil er durch mich die schlimmste Qual der Erde erlitt; bedingungslos geliebt zu werden, ohne selbst zu lieben.

Nach so vielen Tränen, nach so vielen Sünden und im Augenblick solcher Angst glaube ich, den Schimmer einer Erkenntnis zu gewahren, der mich verdammt und tröstet zugleich; ich war zum lieben geschaffen, und das genügte für mein

Leben Rudolf aber war geboren, um die Bestimmung des Mannes zu erfüllen. Das ist die Ordnung der Welt, und die Frau, die so geliebt sein möchte, wie sie selbst liebt, verstößt gegen den Plan Gottes. Ich suchte etwas gegen die Liebe einzutauschen, aber Liebe ist nur Geben. Ich hätte Rudolf inspirieren und dazu bringen sollen, der Welt die glänzenden Gaben seines Geistes darzubieten. Diese reichten Uber das Gewöhnliche hinaus und über das, was sogar in Paris als oberen Ranges gilt. Ich habe diese Bestimmung erst verstanden, als ich auf sie verzichten mußte . . . Ich habe Rudolf nicht .geliebt'. Ich hätte ihn freigelassen, so wie Gott uns freiläßt, aus Liebe uns Freiheit läßt, Ihn nicht zu lieben ...“

Zu spät kommt Ellen die Erkenntnis ihrer Schuld: sie hat ein Geschöpf zum Götzen gemacht und die Liebe selbst vergewaltig und erniedrigt„ indem sie den Geliebten zur Untätigkeit verdammte und von ihm forderte, sich selbst und seine Aufgabe innerhalb der Gesellschaft seiner Leidenschaft zu.opfern.

Noch eines scheint uns wesentlich in diesen Bekenntnissen. Ellen sagt mehrmals deutlich, sie schreibe ihre Beichte als Buße und als Warnung: „Damit, ihr allzu leidenschaftlichen Mädchen, die ihr, in der Täuschung über die Liebe befangen, das Glück suchen würdet, wo es nicht zu finden ist, hoffe ich euch warnen zu können ...“ Sie wendet sich nicht gegen die irdische Liebe schlechthin, sondern gegen die falsche Liebe, die sich selbst sucht, „die zuviel fordert und darum zuwenig erhält“.

Schließlich ist dieses ganze Buch, auch wenn das nie direkt ausgesprochen wird, eine Warnung gegen die Unordnung in der Liebe. Das Unglück beginnt mit Ellens Verführung, die in der Folge unausweichlich ihre verhängnisvollen Kreise zieht. „Die Polin denkt im Augenblick ihres Abschieds nicht mehr“, sagt d'Otrement in seinem Vorwort: „Ich sterbe, weil ich falsch geliebt habe.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung