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Vor dem Bild des Großvaters

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„Zu mir kommen Leute aller Art“, erzählt er lachend. „Adelige und Kleinbürger, Millionäre und Vagabunden. Heuite, im Zeitalter des Materialismus, bedürfen arme Kranke mehr denn je der menschlichen Hilfe des Arztes. Man sollte sich über die perfektionistische Sozialversicherung nicht täuschen. Auch sie ist von reinem Zweckdenken geleitet.“

Dann erzählt Dr. Tolstoj: „Erst kürzlich hatte ich einen erschütternden Fall: Die Sozialversicherung lehnte die Kurbehandlung einer an Nephritis leidenden Patientin ab, weil eine Heilung nicht möglich war und die Investition für die Verlängerung ihres Lebens um vier oder fünf Monate als nicht lohnenswert empfunden wurde. Ich glaube, daß eine Epoche, die sich allein von Nützlichkeitserwägungen leiten läßt, sich selbst verdammt.“

^Wir verbrachten einen ganzen Nachmittag in diesem ungewöhnlichen Sprechzimmer, das durch eine Fülle russischer Bücher und Familienphotos, die Leo Tolstoj im Kreise seiner Kinder und Enkel zeigen, die Atmosphäre von Jassnaja Poljana wachwerden ließ.

Über dem Schreibtisch unseres Gesprächspartners hängt ein bekanntes Originalgemälde, dessen Reproduktionen man schon tausendfach begegnet ist. Darauf sieht man den Großvater mit wehendem Bart wie einen Sturmwind über die Landschaft jagen.

Unwillkürlich gleitet der Blick des Betrachters vom Bilde des Riesen im Bauernkittel auf den korrekt-eleganten Enkel, der den hartherzigen Materialismus unseres Zeitalters anklagt. Eine äußere Ähnlichkeil ist schwer zu entdecken. Aber in dem Maße, wie die Zeit fortschreitet und sich der junge Graf Tolstoj für ein Thema erwärmt, wirkt er wie von einer heiligen Mission besessen, so wie dies zutiefst musischen Menschen und fanatischen Glaubensstreitern eigen ist.

Und plötzlich fühlt man einen mystischen Zusammenhang zwischen dem Alten auf dem Bilde und dem Enkel, der, hätte er nicht zufällig Medizin studiert, um den Menschen praktisch zu dienen, ein Dichter geworden wäre.

Zurück in die Heimat?

Dichter und Träumer haben von der Welt ihre eigenen Vorstellungen, die sich dem Verständnis nüchtern denkender, gewöhnlicher Sterblicher oft entziehen. Dies gilt vor allem für den Bereich der Politik. So stoßen wiederholte Reisen Sergej Tolstojs in die Sowjetunion — er war erst kürzlich in Begleitung des mit ihm verwandten Fürsten Trubetzkoy in Moskau — auf heftige Kritik derjenigen Emigranten, die in derartigen Kontakten eine demonstrative Aufwertung des kommunistischen Regimes erblicken.

Sie nennen ihre Landsleute, die dem Kreml Gelegenheit geben, mit ihren historischen Namen Propaganda zu treiben, nicht „Träumer“, sondern „hoffnungslos Sentimentale“ oder schlicht „naive Idioten“. Zur Not finden sie sich bereit, den Wunsch mancher im biblischen Alter stehenden Vertreter des Hochadels nach einer letzten Ruhestätte in der Hei mat zu entschuldigen.

Geistiger Verfall und das Nach lassen der seelischen Widerstands kraft, so sagen sie, rechtfertige ein gewisse Nachsicht. Werden jedoc jüngere Mitglieder der Fürsten familien Trubetzkoy, Galyzin ode gar der Romanoffs von der „modi sehen Epidemie des Moskau-Touris mus“ ergriffen, so setzen sie sich vo selten bedingungsloser Antikommu nisten schärfster MißbilHlsune aus.

Graf Sergej Tolstoj bringt dei sowjetischen Ideologie fraglos nichl die geringste Sympathie entgegen Er begründet seine Rußlandbesuch« mit der Überzeugung, daß der seit Stalins Tod eingeleitete Liberalisierungsprozeß des bolschewistischer Systems durch die Einflußnahme dei Emigration gefördert und beschleunigt werden könne.

„Spricht man in Moskau mit den Mann auf der Straße“, versichert er „so kann man eine erstaunlich« Wahrnehmung machen: Für die Russen liegt die Oktoberrevolution ebensoweit zurück, wie für die Franzosen die Erstürmung der Bastille und die Jahre der Schreckensherrschaft.“

Den öffentlichen Skandal, den vor vielen Jahren das Buch Andre Gides „Rückkehr aus der UdSSR“ auslöste, der den Dichter später zu einer teilweisen Widerrufung seiner Erkenntnisse gezwungen hat, vor Augen, scheuen sie vor unerfreulichen Weiterungen, die unmittelbare Kontakte mit der sowjetischen Welt nach sich ziehen können, zurück.

Während Joseph Kessel kurz feststellte, daß er bisher keine Zeit gehabt habe, Sowjetrußland zu besuchen, gab uns Henri Troyat für sein Zögern eine ausführliche Begründung,

„Es gibt insgesamt drei Gründe dafür, warum ich mich heute nur schwer zu einem Besuch der Sowjetunion entschließen kann. Zunächst habe ich einen Horror vor offiziellen Empfängen, öffentlichen Diskussionen, Cocktailpartys und Festreden. Ich würde es mir ganz reizvoll vorstellen, inkognito in der UdSSR herumzureisen und überall Gespräche mit den Menschen aus dem Volk zu führen. Aber ist so etwas heute schon möglich?

Zweitens habe ich mir im Laufe meines literarischen Werdegangs ein bestimmtes Bild von Rußland gemacht, das teils auf meinen Kindheitserinnerungen, teils auf Erzählungen meiner Eltern und Verwandten beruht. Ich liebe dieses Rußlandbild und habe Angst, daß es durch die Berührung mit einem völlig gewandelten Land zerstört werden kötnnte.“

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