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Was ist des Deutschen Vaterland?

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THE DEVELOPMENT OF THE GERMAN PUBLIC MIND. Bd. 2: The Age of Enlightenment. Von Frederic Hertz. C. Allen fcUnwin Ltd., London, 1962. 487 Seiten. Preis 50 engl. Sh.

„Die Entwicklung des deutschen öffentlichen Geistes, eine Sozialgeschichte deutscher politischer Gefühle, Bestrebungen und Ideen. Die Zeit der Aufklärung.“ Dies ist der Titel des vorliegenden Bandes. Doch es hängt offenbar mit der Einteilung des Gesamtwerkes zusammen, daß er •ich als zu eng herausstellt. Die Schilderung beginnt mit einer Beschreibung von Deutschland, wie es nach dem Westfälischen Frieden war. Die Barockzeit Deutschlands wird also hier besprochen, freilich nicht in Hinsicht auf die Ideen der Gegenreformation, sondern mit dem Blick auf die künftige Epoche. Die Zeit der Aufklärung wird dann bis zum Vorabend der Befreiungskriege behandelt.

Von reichlicher Literatur ausgehend — die „Bibliography“ beträgt 24 Seiten —, hat der Autor dem englischsprechenden Publikum eine wertvolle ideengeschichtliche Arbeit geschenkt. Es will uns scheinen, daß auch der Durchschnittsleser deutscher Zunge hier viel Belehrung finden wird. Denn nicht nur altbekannte Gestalten der Geistesgeschichte — Chemnitz und Leibniz, Lessing und Goethe — werden hier besprochen, auch Figuren, einst tonangebend, aber heute der Aufmerksamkeit entfallen, wie die beiden Moser, werden hier entsprechend gewürdigt. Es versteht sich, daß eine solche Ideengeschichte, zumal wenn sie fremdsprachigen Lesern bestimmt ist, eine willkürliche Auswahl durch den Autor bedeutet, und so kann es nicht ausbleiben, daS der oder jener Leser einen Namen vermißt. So will es uns scheinen, daß Männer wie der hier nur nebenbei genannte Johannes v. Müller, wie die aufgeklärten Prälaten Hontheim, Dalberg, Kindermann, eine gründliche Erwähnung verdient hätten; auch etwa die Rührstücke eines Iffland mit ihren armen, aber ehrlichen Helden, ihren adeligen Schurken sind so bezeichnend für den Geist der Zeit, daß man wohl auf sie hätte anspielen können. Denn solche Schriften lasen durchaus auch Fürsten und Fürstenräte!

Ein Vorzug des Werkes ist die Art, wie

hier die Politik der deutschen Höfe behandelt wird, vor allem der Kaiserhof und sein eben damals entstandener Nebenbuhler — der preußische Hof. Mit vortrefflichem Verständnis schildert dabei der Autor, wie der Geist der Aufklärung der deutschen Kleinstaaterei - dieser Schöpfung der Barockzeit — feindlich wurde: Der aufgeklärten Auffassung ist eben alles, auch die volksfremdeste Bürokratie, lieber als jenes persönliche Walten des Landesfürsten, welches im Guten und im Bösen die patriarchalische Gesellschaftsform kennzeichnet. Das Problem der deutschen Einheit mußte also dringend werden, und die Kardinalfrage deutscher Geschichte in der Neuzeit ist: Warum wurde Deutschland nicht durch das alte Kaisertum geeinigt? Wie kam das Haus der Reichserzkämmerer dazu, den Kaiser aus Deutschland auszuschließen und im Versailler Spiegelsaal eine papierene Kaiserkrone anzunehmen? — Die ersten Schritte zu dieser Umstülpung der deutschen Geschichte

fallen in die hier besprochene Zeit. Unvoreingenommen wird hier geschildert, wie Friedrich II. weite Kreise der öffentlichen Meinung zu gewinnen wußte, wie Friedrich Wilhelm II. zum .Judas am Reich“ wurde.

Eigens wollen wir die Tatsache hervorheben, daß die Verhältnisse der bäuerlichen Untertanen zutreffend beschrieben, Leibeigenschaft und Sklaverei gebührend unterschieden werden. Kritische Ausstellungen am vorliegenden Werk müßten sich wahrhaftig mit Kleinigkeiten beschäftigen (zum Beispiel: warum werden königliche „Machtsprüche“ in Gänsefüßchen erwähnt, als ob das ein juristischer Fachausdruck wäre?). Höchstens wäre zu sagen, daß dem mitteleuropäischen Leser der durchaus anglo-amerikanische Gebrauch des Wortes „nation“ auffallen mag. Sonst aber bleibt uns nur der Wunsch, den dritten Band des lehrreichen Werkes in der Hand zu haben.

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