"Was wir wollten, hat niemand gemacht"

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Dietmar Dath schrieb einen Roman über einen Autor, der ein Buch schreibt über den Physiker Paul Dirac und sich dabei ziemlich verzettelt.

Am Anfang steht ein Missverständnis: Die mysteriöse "Frau von der Küste" hat die halbautistische Nicole nämlich nicht gefragt, wer sterben soll, sondern wessen Leben entbehrlich ist. Es stirbt dann zwar tatsächlich jemand, doch der, den Nicole genannt hat, bekommt ein doppeltes Leben ...

Alles klar? Nein? Macht nichts! Es führen zwar nicht alle aufgeworfenen Fragen in Dietmar Daths neuem Roman zu einer Antwort, doch zu diesem Rätsel findet der ausdauernde Leser eine Lösung. Gleich vorweg: Die Strapazen lohnen sich, sofern man sich auf Grenzüberschreitungen in so gegensätzliche Regionen wie Quantenphysik und Popkultur vorurteilsfrei einlassen kann und auch mit Zeitreisen kein Problem hat.

Buch über Autor

Ein Autor schreibt ein Buch über einen Autor, der ein Buch schreiben möchte. Diese mehrfache Erzählstruktur ist als postmoderner Kunstgriff der Metafiktion zunächst nicht neu - genauso wenig wie ein üppiges intertextuelles Verweisnetz (von Dante bis Buffy the Vampire Slayer). Dietmar Daths Autor heißt David Dalek und hat mit seinem Schöpfer sicher mehr als die Initialen gemeinsam, doch anders als jener verzettelt sich David beim Versuch, über den englische Physiker Paul Dirac (1902-1984) ein Buch zu schreiben, im Lauf der zunehmend verwirrender werdenden Geschehnisse heillos, bis er schließlich buchstäblich in der Wüste steht.

Was hat es nun mit diesem Laien eher wenig bekannten Paul Dirac auf sich? Lesern mit vielleicht schon etwas verblassten Physik-Kenntnissen mag an dieser Stelle nicht bang werden: es handelt sich hier um einen literarischen, keinen didaktischen Text. "Diracs Wissenschaft ist in diesem Buch daher genau wie Nicoles angeblicher Irrsinn einfach das Medium, in dem diese beiden Menschen ihre jeweilige Haltung zu dem Problem der Wahrheitsfindung in kapitalistischen Gesellschaften verwirklichen", schreibt Dietmar Dath im Nachwort. Nur zwei Aspekte seien hier hervorgehoben: zum einen war Dirac - einer der Väter der Quantenmechanik - ein ausgesprochen theoretischer Denker, der sich wenig um eine praktische Anwendung seiner Erkenntnisse kümmerte. So konnte es schon geschehen, dass er zu Lösungen kam, nach denen er gar nicht gesucht hatte. Quasi als Nebenprodukt seiner Bahn brechenden Elektronengleichung, für die er 1933 gemeinsam mit Schrödinger den Nobelpreis erhielt, sagte er 1928 die Existenz von Teilchen aus Antimaterie (also Materie negativer Energie) voraus. Und aus dieser Erkenntnis postuliert Dirac einen mit negativer Energie vollständig ausgefüllten Kosmos, das Dirac-Meer ... ein geheimnisvolles Medium, das Science-Fiction-Autoren wie Geoffrey A. Landis zu interessanten Spekulationen verleitet hat.

Gewichene Träume

David und sein Freundeskreis sind die Protagonisten der Gegenwartsebene dieses Romans. Sie sind Mitte Dreißig, kennen sich schon aus der Schule, doch ihre revolutionären Träume und Ideale sind mittlerweile pragmatischeren Lebensentwürfe gewichen. Sie sind "ausgebrannte, aber anständige Menschen, die selber einmal versucht haben, den Alltag der Vernunft zu unterwerfen - der politischen, wissenschaftlichen, ästhetischen ..."

Ganz anders Nicole, die junge Freundin von Davids bestem Freund Paul: sie erscheint als sylphidenhaftes Wesen, das seine Umwelt nicht anders als sinnlich wahrnehmen kann. Sie schwärmt für "Supertramp", die US-Teenieserie "Roswell" (hier geht es um außerirdische Nachkommen des unter UFOlogen außer Zweifel stehenden UFO-Absturzes in der texanischen Wüste im Jahr 1947) - und ist von Paul schwanger. Was dann passiert, sei hier aber nicht verraten. Die anfangs noch getrennten Zeitebenen beginnen sich jedenfalls mehr und mehr zu überlagern und gegenseitig zu beeinflussen, nur David will das nicht wahrhaben.

Resignative Einsicht

Und was steht am Schluss? Gilt wirklich folgende resignative Einsicht Davids: "Es ist nix draus geworden, soviel steht fest: Die Sowjetunion ist weg, Punk ist Retrochic, die Besiedelung des Alls eine Computeranimation, die RAF Kunstgeschichte, die Vernunft ist das, was ein Anlagenberater benutzt, um die aussichtsreichsten Fondspakete zu schnüren die Liebe hat Aids - was wir machen wollten, hat niemand gemacht, ist abgesagt worden." Oder ist doch noch nicht alles verraten, woran man mit 15 geglaubt hat? - Der Leser mag sich überzeugen, auch wenn er mit 15 vielleicht andere Ideale und Vorbilder hatte als David und Dietmar Dath.

DIRAC

Roman von Dietmar Dath

Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006

384 Seiten, geb., e 20,50

HINTEN: A. Piccard, E. Henriot, P. Ehrenfest, Ed. Herzen, Th. De Donder, E. Schrödinger, E. Verschaffelt, W. Pauli, W. Heisenberg, R.H. Fowler, L. Brillouin

MITTE: P. Debye, M. Knudsen, W.L. Bragg, H.A. Kramers, P.A.M. Dirac, A.H. Compton, L. de Broglie, M. Born, N. Bohr

VORNE: I. Langmuir, M. Planck, M. Curie, H.A. Lorentz, A. Einstein, P. Langevin, Ch. E. Guye, C.T.R. Wilson, O.W. Richardson

(1927 Solvay Conference on Quantum Mechanics)

Photograph by Benjamin Couprie, Institut International de Physique Solvay, Brussels, Belgium

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