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Wie sie das Leben sehen

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Der ohne einen Tropfen englischen Blutes geborene Engländer russischer Herkunft, Peter Ustinov, ist Schauspieler, Regisseur und gewiegter Theaterautor in einer Person. Gleich einem Meisterjongleur vermag er einen Einfall auf die Spitze zu treiben, ihn den launigsten Veränderungen zu unterwerfen und so sein Publikum zwei Stunden lang zwischen Heiterkeit und Emst in Atem zu halten. Es entspricht dem Wesen dieser Kunst, daß sie sich dabei weder in allzu luftige Höhen aufschwingt, noch in abgründige Tiefen hinabtaucht. Seinem Stück „Endspurt liegt ein blendender und bühnenwirksamer Einfall zugrunde. Ustinov zerlegt in seinem „biographischen Abenteuer“ eine Figur, Sam Kinsale, in vier Teile. Der alte Sam, erfolgreicher Dutzendschriftsteller und Familienvater, ist daran, seine Autobiographie zu schreiben: „Ich schaue mich im Spiegel an und weiß nicht recht, was ich da eigentlich sehe — das Bildnis eines Achtzigjährigen mit einer Unzahl anderer daruntergemalt.“ Und schon sind sie um ihn, der 60jährige Sam, Sam, 40, Sam, 20, und am Ende noch Sam, das Baby; aber nicht als traumhafte Schattengestalten, sondern ganz real aus Fleisch und Blut von verschiedenen Schauspielern dargestellt. Und nun rollt in einigen eingeblendeten Daseinsschnitten das Leben dieser vier Sims ab, die doch alle der gleiche sind, nur in verschiedenen Stadien der Lebenserfahrung. Wie sich da aus den Dialogen, durch das Vorherwissen der Älteren in der blitzschnellen Rückerinnerung und durch die bestürzten Ausblicke der Jüngeren in eine noch ungelebte Zukunft, immer neue situa-tionskomische Überraschungen ergeben, das ist witzig und amüsant und wird im Zuschauerraum mit einschnappendem Gelächter quittiert. Zudem gibt Ustinov aus vollen Händen dem Theater, was des Theaters ist, vor allem den Schauspielern dankbare Rollen, darunter die Glanzrolle: der listige, noch immer lebenslustige 80jährige Sam. Die Schauspieler sind es, die das Stück (laut Ustinov) „zum Leben erwecken, heiter und leicht auf der Oberfläche, und sie sind es, die uns auch die kälteren Strömungen spüren lassen, die unter der Oberfläche verborgen sind — und die gar ni:ht seltenen Trivialitäten des Textes vergessen lassen, möchte man hinzufügen.

Im Akademietheater wurde denn auch ein richtiges Schauspielerstück daraus, so sehr, daß man wünschte, die Regie (Rudolf Steinbock) hätte das Stück etwas weniger in einzelne, wenn auch oft brillant ausge^e^gploWtrjtte zerfallen; lassen. Hervorragend':., ■ -»-t^ffrl™;: Baiser als Sam, 80, Susi N i c o 1 e 11 i als Stella Kinsale in allen Lebensaltern — eine Frau mit vier Männern sozusagen, Hilde W a g e n e r als exaltierte Mama der Sams. Sehr gut: Fred L i e w e h r als Sam, 60, Wolfgang Gasser als Sam, 40, Emst Anders als Sam, 20, Heinz M o o g als Vater, Achim B e n n i n s als Sohn der Sams, Sonja S u 11 e r als Vamp und Sekretärin, Marianne Chappui« als Teenagerbraut. Das berückend pompöse Arbeitszimmer der Sams stammt von Lois Egg.

Die 19jährige Wanderin Shelagh De-laney, Platzanweiserin und ehemalige Fabriksarbeiterin, sah in Manchester zwei seichte Salondramen mit Pseudoproblemen eine« berühmten englischen Autors und war darüber so verärgert, daß sie »ich hinsetzte und in 14 Tagen selber ein Stück schrieb. Es sollte nicht bloß die Zuschauer unterhalten, sonder» das wirkliche leben zeigen, nicht vor allem den Schauspielern ergiebige Rollen liefern, sondern „lebenswahre“ Charaktere auf die Bühne bringen. Auf diese etwas wunderliche Weise entstand das Schauspiel: „A taste o f honoy“ („Bitterer Honig“), das mit viel Erfolg aufgeführt und mit höchstem Lob bedacht wurde. (Unter anderen Graham Greene: „Das beste zeitgenössische Stück, das man in London zu sehen bekommt.“)

Milieu ist das Elendsviertel einer englischen Hafenstadt („Zinshöfe, Schlachthöfe, Friedhöfe“). Dort spielt sich in einer trostlosen Pension das Mutter-Tochter-Drama ab. Die Mutter ist eine verkommene Schlampe („Jede Falte im Gesicht erzählt eine dreckige Geschichte“), die keine Liebe für ihre Tochter aufbringt. Die nach Zärtlichkeit verlangende Halbwüchsige wird von einem schwarzen Matrosen verführt. Er fährt davon, das Mädchen bleibt in Erwartung eines Kindes zurück, während die Mutter mit einem ihrer Ga-lane abzieht. Doch da findet die Verlassene die hilfreiche Freundschaft eines knabenhaft schüchternen Kunststudenten mit etwas abwegigen Neigungen, der sie richtig bemuttert und ihr einen kleinen Honiggeschmack, einen Schimmer von Glück gibt. Als die Mutter, von ihrem Kerl verlassen, wieder zur Tochter zurückkehrt, um ihr bei der Geburt beizustehen, verschwindet der junge Freund still. Diese bitter beklemmende Wirklichkeit gewiß ausgefallener Schicksale, die Primitivität dieser amoralischen Menschen ist ohne Wehleidigkeit brutal gestaltet. Das eigentlich Erstaunliche und Ergreifende an diesem Erstlingswerk ist, wie in der Finsternis immer wieder eine Spur Hoffnung und Vei-trauen, ja selbst ein Fünkchen Humot aufkommt, wie durch alle Erniedrigung das reine Gesicht des Menschen htnduich-schimmert. Regisseur Edwin Z b o n e k im K o, n ,z e r t hji u s t h e a,t: e, r d e r J o s e f-Stadt brachte eine ungemein djihte Auf-, führung zustände, Gretl E 1 b war die Mutter voll ordinärer Vitalität, Walter K o-h u t ihr ebenbürtiger Gefährte, Gertraud Jesserer das armselige Geschöpf von Tochter. Peter M a t i t ihr rührend besorgter Freund, Charles E. Johnson der Negermatrose. Die Andeutung von Bühnenbild stammt von Gaby Niedermoser.

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