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Insekten schreien nicht

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Wenn die Menschen zu Insekten geworden sind, dann sind sie wert, wie Insekten vertilgt zu werden Wir glauben, den italienischen Dichter Ežio d’ E r r i c o recht verstanden zu haben, wenn er mit seiner tragischen Farce „Die Heuschrek- k e n“ diese Wahrheit symbolisch aus- drücken will. In einem italienisch kolorierten Nachkriegsdorf — einer Phantasielandschaft zugleich — geschieht ein Mord, ein zweckloser „Insektenmord" an einem der „letzten Menschen" (Sieghart R u p p, einer der interessantesten und im guten Sinn modernsten Schauspieler, die wir in Wien zur Zeit haben). Die ihn begehen (Klaus H ö- r i n g und die ganz ausgezeichnete, an eine Figur der Sagan erinnernde Paola L o e w) sind Amoralisten aus Verzweiflung. Sie kehren, von kreatürlicher Schulderkenntnis getrieben, zur Sühne zurück. Aber siehe: die Dorfgemeinschaft leugnet die geschehene Tat nicht nur, sie erklärt sie zur Illusion, darin durch die Verdrehungskunst des Juristen (von Viktor Gschmeidler skurril karikiert) und die stets konjunkturbeflissene Rabulistik des Bürokraten (Hans W e i c k e r) noch bestärkt. Der Versuch des zum hoffnungslosen und passiven Illusionisten gewordenen Poeten (wieder einmal gab Joseph H e n d r i c h s in den verhaltenen Szenen sein Bestes), den Mördern wenigstens mit ihrer Tat ihre „conditio humana“ zurückzugeben, scheitert. In einem düsteren Hexensabbath der bequemen und trägen Illusion leugnet die Gesellschaft mit Schuld und Verantwortung auch ihre Geschichte, mit der Vergangenheit auch die Zukunft. Die hereinbrechenden Heuschrek- ken, die in Gestalt von Vernichtungsflugzeugen das Vertilgungspulver regnen lassen, vollziehen einen Schuldspruch, den sich die Gesellschaft selbst gesprochen hat. Das alles lag — nicht immer mit Präzision ausgesprochen, sondern des öfteren sentimental verschlummert — in diesem Stück. Man hätte es verstehen und mitteilen können, wenn man es hautnah realistisch, gegenwärtig und unter Verzicht auf szenisches Brimborium gespielt hätte. (Etwa in der Art eines guten Pirandello oder Thornton Wilder.) Der deutsche Gastregisseur Kraft-Alexander aber machte durch ein Zuviel die Wirkung fast zunichte. Er stellte die grauenvolle Konsequenz bereits in der expressionistischen Anfangsgebärde dar und ließ sich von Rudolf Schnei- der-Manns-Au ein Bühnenbild schaffen, das ebenso wie Maxi Tschunkos Kostüme all das doppelt und damit verwirrend sagte, was erst aus dem Text heraus hätte entstehen müssen. Nur wenige der Darsteller (unter ihnen Kurt S o w i- n e t z als ohne Kamera porträtierender Photograph des Nichts) wußten von sich aus, welche Wirkung das Grauen haben kann, wenn es gleichsam zufällig aus dem

Alltäglichen und Durchschnittlichen aufbricht und nicht mit Theaterrequisiten hergestellt werden muß.

Das Volkstheater hat auch dieses Stück in seinem Zyklus „Kompromißloses Theater“ aufgeführt. Vielleicht verleitete diese Titelgebung dazu, nun Avantgarde um jeden Preis zu mimen. Gut war es trotzdem, dieses Stück kennenzulernen. Und wir werden wohl oder übel diese doppelte Buchführung des Volkstheaters (hier Wittlingers banale Unterhosenkomik, hier der kontrastierend hochgestochene Superintellekt) auch in der nächsten Spielzeit zur Kenntnis nehmen müssen. Aber man sperre sie nicht in die eigenen Gartenzäune. Man kann auch im Normalspielplan „besonders“ und im Sonderabonnement „normal" spielen und inszenieren.

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