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In neuen Perspektiven

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Unsere gegenwärtige dramatische Produktion ist — von wenigen, größtenteils französischen Ausnahmen abgesehen — nicht für die Bildung dessen geeignet, was man ein Repertoire nennt. Was immer uns Jahr für Jahr an neuen Stücken begegnet, ist schon eine Spielzeit später vergessen. Ein Regisseur, ein Schauspieler, ja auch nur ein durchschnittsgebildeter Theaterfreund mußte noch vor dreißig Jahren wissen, wer „der“ Henschel, „die“ Hilde Wangel, „das“ süße Mädel ist. Wer aber könnte heute, ohne Spezialkenntnisse zu besitzen, auch nur die Hauptperson eines Dramas von Asmodi, eines Lustspiels von de Filippo, des „Kalten Lichts“ von Zuckmayer oder auch des „Donadieu“ von Hochwälder aus dem Gedächtnis aufzählen, geschweige denn sie als Rollen und Figuren charakterisieren. Die Josef-Stadt hat nun an zwei ihrer Häuser einen interessanten Versuch gewagt: Sie hat das heutige' Publikum mit zwei Stücken konfrontiert, die rund zehn Jahre alt sind und die vor sieben und acht Jahren an anderen Wiener Bühnen mit Erfolg gespielt (und aus diesem Anlaß auch in der „Furche“ ausführlich besprochen) wurden. Es ist also heute vor allem nach der Perspektivverschiebung zu fragen, die sowohl das Publikum als auch die Werke selbst erlebt haben. Und die ist nun wirklich in erheblichem Ausmaß eingetreten.

Sartres „Schmutzige Hände“ zeigen deutlicher als früher ihre handfeste Reißerqualität. Der politische Tiefsinn, den man da und dort hineininterpretierte, hat viel von Substanz verloren, seit die Verschwörergespräche von einst zu offiziellen Parteitagsreden und Leitartikeln geworden sind. Die Selbstrechtfertigung Hoederers vor dem „Sektierer“ Hugo könnte besonders in der Wiedergabe durch den ganz ausgezeichneten slawisch-vitalen Kurt H e i n t e 1 fast von Chruschtschow selbst gesprochen werden. Aber nicht mehr Hugo, der in seiner hysterischen Weltfremdheit politisch kaum mehr ernstzunehmende Salonkommunist (Walter Kohuts kindisch-sentimentale Ausdrucksweise nahm ihm die letzte Gegnerschärfe), ist der eigentliche Widerpart, sondern Jessica, von Elfriede 1 r r a 11 gar nicht mehr kätzchenhaft, sondern sehr bewußt als Vertreterin weiblicher Humanität aufgefaßt. Günther H a e n e 1 s Regie bewährte sich besonders im Detail, in der unheimlich echten, kleinbürgerlichen Durch-schnjftlicjjkeit- des . Furtktionärrnilieus,

K o n d r a k s als zu dieser beklemmend naturechten Inszenierung paßte.

Auch Becketts „Warten auf G o d o t“ sehen wir heute anders als damals. “Die Trostlosigkeit der beiden Sinnbildgestalten, die sich nicht in die Wechselbeziehung Pozzo-Lucky, die Herr-und-Knecht-Welt, einspannen lassen und lieber auf das „Wunderbare“ warten, ist statuarisch geworden, ist nicht mehr schneidender -Angriff, sondern fast schon erstarrte Pose. Sie warten schon zu lange, ohne daß Godot wirklich gekommen wäre ... Edwin Z b o n e k inszenierte das Stück mit kräftigem . Nachdruck fast als ein Mysterienspiel. Neben dem reifer und schwerer gewordenen Otto Schenk stand diesmal Franz Messner, kein Clown mehr, sondern ein angstgejagter, schwacher Mensch. Ein elementares Erlebnis der Pozzo Leo A s k i n s, beachtlich die durchgehaltene Spannung Charles Elkins in der Knabenrolle.

Ob man Barlachs „Armen Vetter“ je in Wien sah, ist heute schwer festzustellen. Für die, die den Gang in den asketisch-schlichten Keller der Studentenbühne „A r c h e“ nicht

scheuten, war es für alle Fälle ein ganz neues Erlebnis. Expressionistisches „O-Mensch“-Theater von 1918 durch junge Menschen dargestellt, die allesamt damals noch nicht einmal geboren waren. Protestantisch-norddeutsche, vergrübelte Dramatik von jungen Katholiken nachvollzogen, ii> einer Intensität und Texthingabe gespielt, an der sich Berufsschauspieler ein Beispiel nehmen könnten. Ohne Bühnenbild und Kostüm, nur auf das schwere und vielfach verschlüsselte Wort gestellt. Eine beachtliche Leistung des Regisseurs Helmut Pietschmann und seiner beiden Hauptdarsteller Wolf gang M a y r und besonders Bertram M ö d 1 a g 1.

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