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Deutschland erwache?

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Nur selten hat sich ein Volk so lange und so nachhaltig dagegen gewehrt, Tatsachen der Geschichte zur Kenntnis zu nehmen, wie das deutsche. Seit 1945 lebt es in einer Art von politischem Trauma,in einem Zustand des Halbbewußtseins, und willig nimmt es jede Hilfe an, die sich anbietet, es darin zu erhalten.

Da die Deutschen aber an einem neuralgischen Punkt Europas leben, kann es keinem Volk und keinem Staat dieses Kontinents gleichgültig sein, in welchem Bewußtseins-zustand sich die Deutschen befinden. Zwar spielt die „Deutschlandfrage“ gegenwärtig in der WeLtpolitik nicht mehr die überragende Rolle wie vordem, aber wir wissen nur zu gut, wie rasch sich die Szenerie ändern kann und wie sehr es dann darauf ankommt, daß die plötzlich im Licht stehenden Nationen die neue Situation zu erfassen vermögen.

Die Deutschen haben, darin angeeifert von einer romantischen Geschichtsschreibung, die wenig hinzugelernt, vieles aber vergessen hatte, ihre Niederlage im ersten Weltkrieg niemals ganz begriffen. Alsbald waren sie geneigt, an allerhand Dämonen zu glauben, die sich, vereint zu einer alles durchdringenden Verschwörung, mit List und Gewalt jener Siegespalme bemächtigt hatten, die eigentlich den Deutschen hätte zukommen sollen. Bestärkt wurde diese bittere Selbsttäuschung durch den ebenso fruchtlosen wie lange dauernden Streit um die „Kriegsschuldlüge“, der nach Lage der Dinge, wie fast immer in dr' ■ Geschichte, ohnedies nie wirklich hätte entschieden werden können.

Daß dem ersten Weltkrieg eine stürmische, alle Umwelt verändernde Umwälzung der Gesellschaft folgte, die enorme technische und industrielle Expansionen zeitigte, von welchen wiederum die gesellschaftlichen Umgestaltungen angetrieben wurden, drang deshalb nicht tiefer ins Bewußtsein der Deutschen ein, weil sie daran der Nationalsozialismus hinderte. Pseudomystik und Pseudomythos fanden eine grausige Verbreitung. Ein Geflecht des Irrtums verstellte die Sicht auf die Tatsachen, nach denen sich die Welt neu einrichtete.

Hier ist einzufügen, daß es keineswegs bloß den Deutschen so erging. Auch andere, große und kleine Nationen ergaben sich einer verzerrten Perspektive und blinzelten wenig später erschreckt in das Licht des Neuen. Doch ist es nicht Sache dieser Überlegungen, dabei länger zu verharren.

1945 trat das Gegenteil ein: jede Art von Mythos und Mystik war abhanden gekommen; es gab keine festen Anhaltspunkte, die grausige Katastrophe zu verstehen. Über den am Boden liegenden Deutschen entspann sich bald der „kalte Krieg“, und in ihm fanden auch die Deutschen, ohne eine ausreichende Zeit der Besinnung gewonnen zu haben und auch ohne gefragt zu werden, sehr rasch einen neuen und augenscheinlich auch einen wichtigen Platz. Die Ohren noch voll vom Getöse des Zusammenbruches, wurde Deutschland in eine Situation manövriert, welche jedermann glauben ließ, daß das, was soeben geschehen war, nur eine kurze Zeit währen und nur ein Provisorium sein werde. Hoch emporgehoben durch eine nie dagewesene Welle der Konjunktur, aufgerückt zu einem der wichtigsten Glieder in der Kette der NATO, verwirrt durch die Parolen des „kalten Krieges“ (worin die „Wiedervereinigung“, der „Friedensvertrag“ und die „Grenzen von 1937“ eine wichtige Rolle spielten) und ungeheuer mit sich selbst beschäftigt, verblaßte die Feuerschrift des Chaos nicht bloß in der Erinnerung. Es verblaßte auch der Sinn für die Realität in der Politik.

Keinem der regierenden Politiker der Bonner Bundesrepublik ist der Vorwurf zu ersparen, daß er die Deutschen insgesamt nicht in diesem Zustand belassen hätte. Theodor Heuß und Konrad Adenauer waren vielleicht die einzigen, die ernsthafte Anspielungen auf noch verdunkelte Tatsachen hinstreuten; aber der Schwall von Interpreten, Meinungsmachern und politischen Sandstreuern sorgte ausgiebig dafür, daß jeder Hinweis alsbald abgeschwächt und schließlich und endlich ganz aus dem Bewußtsein verdrängt wurde.

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