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Eine von ihnen hieß Anne Frank

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Das Vermächtnis des deutschen Judentums. Von Hermann Levin Goldschmidt. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main

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Das Vermächtnis des deutschen Judentums. Von Hermann Levin Goldschmidt. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main

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Nun ist auch im skeptischen Paris und in dem dem Sprechstück gegenüber sonst so kühlen Rom das der Wirklichkeit nachgeschriebene Drama des jüdischen Flüchtlingsmädchens Anne Frank zum Ereignis der Theatersaison geworden. Wie viele NichtJuden spüren betroffen und bewegt, daß dieses Schicksal ihr eigenes hätte sein können, vielleicht noch werden kann.

Diese Bestimmung des Juden, das Leid der Mitmenschen in Stellvertretung zu erleiden oder vorwegzunehmen — wie viele Deutsche aus dem Osten haben zum Beispiel nur wenige Jahre nach der Judenvertreibung als Flüchtlinge selbst ein „jüdisches“ Schicksal erlitten! —, wird in dieser ausgezeichneten kurzen Darstellung des in Zürich lebenden Philosophen H. L. Goldschmidt aber 'nur als eine, als die Schattenseite des Miteinanderlebens von Juden und NichtJuden gesehen. Als das Neue und Besondere dieser Schrift erscheint mir ihr erfolgreiches Bemühen, aufzuzeigen, wie auch im Ringen um neues Denken und neue Lebensformen die Juden zusammen mit den anderen Völkern an der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft teilgenommen haben. Dies konnten aber, so zeigt der Autor, gerade jene Juden am besten, die — mochten sie auch die äußeren Formen der Tradition abstreifen — aus dem Geiste des Judentums heraus schrieben, sprachen, handelten.

Goldschmidts Darstellung erschüttert, wenn er auf Grund der nur zu schnell vergessenen Opferzahlen konstatiert, „daß an Juden von 1939 bis 1945 ein Zweiundzwanzigfaches der im Krieg gefallenen Amerikaner und ein Siebzehnfaches der gefallenen Engländer starb ... Und daß, wenn wir nur den Boden Europas in das Auge fassen, der jüdische Verlust ein Fünffaches desjenigen der Jugoslawen darstellt ... ein Sechsfaches des russischen, Siebenfaches des deutschen, Achtfaches des polnischen . . .“

Aber ist es nicht in einem anderen positiven Sinn ebenso erschütternd, zu lesen, wenn ein Mensch wie Goldschmidt, der einem so entsetzlich dezimierten, schwerer als alle anderen geprüften Volke angehört, mit ihm und in seinem Namen bekennt: „Es ist möglich, mit ganzem Herzen und mit “alle'r Kraft ari dem Aufbau der Nduzeit teilzunehmen- und dabei nicht aufzuhören, von der biblischen Wahrheit auszugehen“?

Wie hier, über das ungeheure Verbrechen Hitlers hinweg, voller Trauer, aber ohne Zagen die Geschlagehen. Vertriebenen, millionenfach Ermordeten sich der schöneren Zukunft des ganzen Menschengeschlechtes weihen, ist so erhebend wie die berühmt gewordenen letzten Worte der Anne Frank. Es hat sich über ihren Tod hinaus erfüllt, was sie nur zu hoffen wagte.

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