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Willkommen in Wien, lieber Genosse!

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Sie sind nach Wien gekommen, um hier an den „VII. Weltfestspielen der Jugend und Studenten für Frieden und Freundschaft“ teilzunehmen.

Zehn Tage in Wien! Vom 26. Juli bis zum 4. August.

Welch eine Fülle von Darbietungen, Festen, Feiern! Ich kann es herzlich gut verstehen, daß Ihnen da, lieber Genosse, die Augen übergehen und die Ohren voll sein werden. Damit ist es aber nicht genug: Sie werden, in den Kreisen der Festivalteilnehmer, tanzen und singen. Sie werden darüber hinaus, falls Sie zu Führungskräften, den Kaders, gehören, an ernsten Und anstrengenden Arbeitstagungen teilnehmen, an „Seminaren“ und „Fakultätstreffen", wie es in Ihrer Fachsprache heißt.

Wenn ich alles das erwäge, was da vor Ihnen liegt: alle Herrlichkeiten dieser Erde, viel Vergnügen und ein hohes Maß Arbeit, dann erschrecke ich.

Ich fürchte, daß Sie, lieber Genosse, in diesen zehn Tagen keine Zeit haben werden, um Wien und Oesterreich kennenzulernen. Wien, unser Land und Volk, wie es wirklich ist. Denn die österreichische Jugend, die Sie hier offiziell empfängt, gehört einer kleinen politischen Gruppe an, hinter der nicht ganz drei Prozent unserer Staatsbürger stehen. Eine Gruppe, die sich den Sturz der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung als Aufgabe gewählt hat. Für diese aber tritt Oesterreichs Jugend ein: jene 97 Prozent, die es ablehnen, unter die Diktatur jener drei Prozent zu kommen. Wobei, lieber Genosse, diese 97 Prozent es den eben genannten drei freistellen, sich Ihnen gegenüber für zehn Tage als Vertreter der österreichischen Jugend aufzuspielen — und, was wichtiger, größer, und für Sie vielleicht unfaßbarer ist: auch das ganze übrige Jahr und alle kommenden Jahre es gestattet, daß diese andere Jugend hierzulande ihre Spiele spielt, aufmarschiert, gegen unsere Demokratie zu Felde zieht; und was des weiteren mehr in dieser Richtung liegt.

Das alles erlauben wir uns hier in Oesterreich: in einem Lande, von dessen innerer Freiheit und Spielfreudigkeit Sie sich in eben diesen zehn Tagen kaum einen Begriff machen werden können: da Ihnen dafür die Zeit fehlt…

Sie werden also keine Zeit haben, um sich im Künstlerhaus, das fünf Minuten vom Konzerthaus und zwei Minuten vom Musikverein, also von zwei Häusern, in denen Repräsentativveranstaltungen der „VII. Weltfestspiele“ stattfinden, entfernt ist, eine Ausstellung anzusehen. „Oesterreichs Jugend stellt sich vor", heißt diese Ausstellung. Sie steht unter der Devise „Toleranz, Freiheit, Demokratie“. Schöne Worte, nicht wahr, lieber Genosse! Sehen Sie nun aber näher zu: diese Ausstellung ist von den zwölf Mitgliedsorganisationen des österreichischen Bundesjugendringes gemeinsam geschaffen worden. Diese Jugendorganisationen gehören parteipolitisch, weltanschaulich, konfessionell sehr verschiedenen, ja sehr gegnerischen Richtungen an. Die älteren Brüder dieserJugendverbände haben sich noch vor wenigen Jahren gegenseitig auf das schwerste bekämpft, einander aus dem Staat vertrieben, einander denunziert, dem Kerker, dem Tod überliefert. Vor einem Vierteljahrhundert, genau in diesen Julitagen 1934, kurz zuvor im Februar 1934 und wieder 1938, standen sich junge Menschen aus eben den Lagern, die sich hier gefunden haben, als Todfeinde gegenüber. Sozialisten, Katholiken und andere.

Heute arbeiten sie miteinander.

Sie haben keine Zeit, lieber Genosse, da hinüberzugehen? Zwei Minuten Weges, fünf Minuten Weges. Das ist schade, sehr schade. Ist schade für den „Frieden und die Freundschaft", für die Parole unter der Sie Ihre VII, Weltfestspiele gestellt haben. Denn, sehen Sie zu, lieber Genosse: uns trennt nichts von Ihnen und Ihren Genossen, als dieser kleine Schritt. Von „ihrem" Konzerthaus zu „unserem" Künstlerhaus, in diesen Tagen vom 26. Juli zum 4. August.

Nichts als dieser kleine Schritt: ich gestehe Ihnen gerne, wir Oesterreicher haben ein Vierteljahrhundert zu ihm gebraucht: zur Verwirklichung von „Toleranz, Freiheit, Demokratie". Ich gestehe Ihnen auch offen: nicht alle Oesterreicher sind bereit, diesen Schritt in ihrem eigenen Leben täglich zu gehen. Das Volk von Oesterreich hat aber diesen Schritt getan. Er bedeutet: sich täglich, im Leben, zusammenspielen, als „Rote“, „Schwarze“, „Braune“, „Blaue" — das sind so bei uns Parteifarben und Weltanschauungsfarben —, und damit Demokratie, Frieden und Freundschaft zu wagen, als ein Spiel, in dem alle Menschen aller Farben zugelassen, ja hereingebeten werden.

Nun sind Sie aber doch schon ein bißchen ungeduldig und unwillig, lieber Genosse, und entgegnen mir: ja, dann kommen Sie doch zu uns! Zu den VII. Weltfestspielen! Kommen Sie gleich zur Eröffnung ins Stadion. Da werden Sie sehen, wie die Völker der Erde sich zusammenspielen, zusammentanzen, zusammenfeiern!

Ich sehe, lieber Genosse: ein „Tagesfeuerwerk“, um in der Sprache Ihres einladenden Manifests zu sprechen. Ich sehe, wie die Raketen dieses Feuerwerks in den Himmel über Wien steigen;.sie können leicht gesehen werden von unseren Freunden, von der Jugend Ungarns und der Tschechoslowakei, deren Grenzen ja wenige Kilometer vor den Toren Wiens liegen.

Wenn Sie sich doch etwas Zeit nehmen könnten, lieber Genosse! Glauben Sie mir, das ist die zweite kleine Sache, die uns trennt: Sie haben so wenig Zeit, sich mit uns und unseren Lebensfragen, die wir in einer anderen Gesellschaftsordnung als der Ihren leben, auseinanderzusetzen. Wie gerne möchte ich Ihnen da als Vorbild die großen und bedeutenden russischen Diplomaten vorstellen, die sich sehr viel Zeit nehmen, um ernste Probleme zu studieren. Sie erinnern sich vielleicht: es bedurfte einiger hundert Sitzungen und zehn Jahre, um für das kleine Land Oesterreich einen Staatsvertrag auszuhandeln, der nun tatsächlich ein Werk des Friedens geworden ist. Eben fällt mir die letzte Nummer der „Sowjetunion heute" vom 12. Juli 1959 in die Hände. Erfreut lese ich da in großen Lettern: „F. R. Koslow: ,Die Voraussetzungen für Frieden und Freundschaft zwischen der UdSSR und den USA sind gegeben.' “ Nun wissen Sie, lieber Genosse, so wie ich: da bedarf es noch eines langen herzhaften Ringens, in vielen guten und kräftigen Auseinandersetzungen, bis das Wirklichkeit wird, was der Erste stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates der UdSSR, F. R. Koslow, anspricht: „Frieden und Freundschaft zwischen der UdSSR und den USA.“ Wieviel ist da noch abzuklären, abzusprechen …

Es ist Ihnen nicht entgangen: F. R. Koslow bezieht sich auf dasselbe Motto, wie Ihre „VII. Weltfestspiele“. Sollte sich hier nicht eįn guter, positiver Zusammenhang herstellen lassen? Wenn dem aber so ist, dann müssen Sie sich, lieber Genosse, tatsächlich etwas Zeit nehmen. Und sich von Wien etwa 45 Minuten an die ungarische Grenze bemühen, um dort die Stacheldrähte, Wachtürme usw. anzusehen. Und sich, was noch wichtiger ist, von der österreichischen Jugend die Tragödie des ungarischen Freiheitskampfes, die Tragödie der ungarischen Jugend 1956 anhören. Wirklich anhören, mit beiden Ohren …

Sie stocken unwirsch. Dazu sind Sie nicht nach Wien gekommen, um hier antikommuni- stische Propaganda zu hören. Gewiß nicht. Auch uns liegt wenig an einer gewissen antikommunistischen Propaganda. Wir haben andere Interessen und andere Sorgen in Oesterreich, einem neutralen Staate, der gerne aufrichtig und offen mit seinem großen östlichen Nachbarn ins Gespräch kommen möchte.

Sie sind sich jetzt auch ganz klar darüber, lieber Freund, warum ich Sie als Genosse anspreche. Nicht, weil ich mich selbst als „Genosse“ betrachte, wohl aber, weil für uns Oesterreicher und gerade für unsere österreichische Jugend eine Begegnung und das heißt eine ernste, lange dauernde ruhige und nüchterne Auseinandersetzung gerade mit unseren russischen-Alters-, Schicksals- und Zeitgenossen vordringlich wichtig erscheint. Nicht, daß uns andere Festspielteilnehmer an sich, als Menschen, nicht interessieren. Wohl aber, weil gerade Sie, lieber Genosse, und Ihre Genossen und wir und unsere Freunde Gefahr laufen, ztf- grunde zu gehen, wenn wir nicht zu einem Zusammenspielen kommen: auf einer anderen Ebene, auf anderen Spielplätzen als auf der Show dieser Weltfestspiele.

Der Friede und die Freundschaft der Völker sind eine zu ernste Sache, als daß sie durch „Monsterveranstaltungen“ dieser Art wirklich gefördert werden können. Ein französischer Politiker hat gesagt: der Krieg sei eine zu ernste Sache, als daß man ihn den Generalen überlassen dürfe (ich glaube, daß er hier die volle Zustimmung der russischen Staatsmänner finden wird). Wir hier, im demokratischen Oesterreich, müssen in dieser Stunde sagen: Frieden und Freundschaft der Völker sind eine zu ernste Sache, als daß sie solchen Spielen anvertraut werden dürfen.

Wie, lieber Genosse, Sie blicken mich wieder verdüstert und unwirsch an: was soll denn das heißen? Nehmen Sie die VII. Weltfestspiele nicht ernst?

Ja, jawohl, eben weil ich sie sehr ernst nehme, kann ich in ihnen kein geeignetes Mittel sehen, der Jugend der Welt wirklich zu einem gegenseitigen Sichken- nenlernen, und das heißt einem Anerkennen, daß der Andersdenkende das Recht hat, anders zu sein und zu b-1 eiben, zu verhelfen.

Warum? Nun, ich lese Ihnen die fettgedruckten Zeilen eines „Gruß der Jugend der Welt“ vor, die ein den Veranstaltern nahestehendes Organ, die „Stimmen zur Zeit“ (mit „Bulletin des Weltfriedensrates"), den Weltfestspielen widmen:

„Jugend aus mehr als 120 Ländern der fünf Erdteile kommt vom 26. Juli bis 4. August zu den Weltjugendfestspielen nach Wien. Sowjetische und amerikanische junge Menschen werden hier in Wien miteinander sprechen, in Spiel und Sport wetteifern, tanzen und fröhlich sein und wohl erkennen, daß sie alle den gemeinsamen Wunsch haben: in Frieden zu leben. Junge Franzosen und Algerier werden sich ohne Maschinenpistolen gegenüberstehen und sehen, daß sie eigentlich Freunde sein könnten. Aus Kenya werden junge Neger kommen, und die jungen Leute aus England werden in Wien nicht ihre Herren, sondern ihre Gefährten sein. Und kein amerikanischer und westdeutscher Teilnehmer an den Weltfestspielen wird den chinesischen Burschen und Mädchen gegenüber jenp groteske Haltung zeigen, die ihre Regierungen einnehmen, indem sie den steil aufwärtsstrebenden Staat des größten Volkes der Erde als .nicht existent'be-, trachten.“

Lieber Genosse! Wenn ich nicht eine zu hohe und aufrichtige Hochschätzung Ihrer und meiner Person hätte, würde ich jetzt sagen müssen: da läuft doch die Katze aus dem Sack. Wird hier nicht geradezu programmatisch verkündet, daß es die Aufgabe der VII. Weltfestspiele ist, die Jugend der nicht kommunistischen, weißen und westlichen Welt gegen die Politik ihrer Väter, aufzuhetzen? Wie schön wäre doch der Friede in aller Welt, wenn diese bösen Väter in Afrika usw. nicht eine so verdammte kriegshetzerische’ Politik trieben… Mit solchen Friedensimpressionen kehren dann westliche Teilnehmer heim… Darf man es da ihren Vätern so sehr verargen, wenn sie dagegen sind, daß ihre Kinder solche Festspiele besuchen?

Ich muß Sie, lieber Genosse, ein letztes Mal um Geduld bitten — das heißt, ich möchte Sie einladen, mit sehr viel Geduld zu anderer Zeit zu uns zu kommen. Mißverstehen Sie mich nicht: es liegt mir persönlich sehr ferne, als österreichischer Katholik eine gewisse französische Algerienpolitik, eine' gewisse englische Kenyapolitik und manches andere Trübe und Traurige im Westen verteidigen zu wollen. Loyalität dem Westen und dem Osten gegenüber verpflichtet mich, Ihnen, lieber Genosse, zu sagen: Kehren wir doch alle zuerst vor unserer eigenen Tür! Sehen wir zu, wie in unseren Völkern, in unseren engsten Lebensräumen „rote“, „schwarze", „blaue“ Menschen sich in mehr Friede, mehr Freundschaft als bisher zusammenspielen, z u- samm en spielen dürfen. Lind da dürfen Sie es einem Oesterreicher nicht verargen, wenn er von Wien aus über den nächsten Hofzaun sieht: und da sieht, wie eine blühende, strahlende Jugend unserer nächsten östlichen Nachbarn einfach nicht zum Spiel zugelassen wird, wie sie mundtot gemacht wird.

Noch einmal werden Sie, lieber Genosse, düster und unwirsch: aber das gehört doch alles nicht zu den VII. Weltfestspielen! Worauf ich Ihnen erwidern muß: O ja, das gehört sehr dažu. Sehen Sie, lieber Genosse, da in Baden bei Wien haben sich vor vierzehn Tagen im Rahmen der Pugwash-Konferenz sowjetische, amerikanische, kanadische und englische Atomforscher zu sehr sachlichen Aussprachen getroffen. Anfangs wollte es dieses Jahr gar nicht gelingen… Da drang ein Vorschlag durch, wurde angenommen und von diesem Moment an gab es fruchtbare Gespräche: Jedermann darf nur sein eigenes Land kritisieren, nicht das Land seines Partners.

Ich glaube, daß eine solche Maxime die fruchtbare Basis wäre für die Begegnung gerade auch junger Menschen, in kommenden Jahren und Jahrzehnten: Friede und Freundschaft brauchen ruhige, stille, kleine Orte, ab-

seits von allen Demonstrationen und Prestigeveranstaltungen, um, zarte Pflanzen, wie sie noch sind, gedeihen zu können. In diesem Sinne hoffe ich Sie, lieber Genosse, zu anderer Zeit am selben Ort treffen zu können. Hier, in Wien, jenseits der VII. Weltfestspiele.

Ein letztes Mal fällt mein Blick beiseite, dieses Mal auf eine Seite eines Blattes der „rechten“ Regierungspartei unseres Landes. Da wird kritisiert, daß die Tafeln und Berichte in der Ausstellung „Oesterreichische Jugend stellt sich vor“ nur in vier Sprachen abgefaßt sind: „Eine fünfte Sprache fehlt. Auf Russisch ist kein Text vorzufinden. Warum nicht?“

Ich schließe mich dieser Frage an und hoffe zuversichtlich, daß sie in Bälde positiv gelöst wird. Dann wird das Motto dieser Ausstellung richtig verstanden werden: „Die Jugend will keine Grenzen, die Jugend will sich verbrüdern.“

Ich bin am Ende meines offenen Briefes, lieber Genosse. Sind Sie bereit, einen Anfang zu machen? Einen neuen Anfang? Die Jugend allüberall auf dieser Welt wird ihre Jugendkraft, ihren Freiheitswillen, ihren Willen zu Freundschaft und Völkerverständigung eben dadurch immer wieder bezeugen müssen: durch den Mut, neu anzufangen. Und wirklich über den eigenen Schatten zu springen. Das könnte hier in Wien beginnen: springen Sie doch, lieber Genosse,

über den Schatten dieser Weltfestspiele. Haben Sie keine falsche Angst, dadurch zum „Abspringen“ verführt zu werden. Sie werden sich nur noch tiefer, herzhafter und gewiß auch schmerzlicher in ihrem eigenen Volke und Lande einwurzeln, wenn sie dies wagen: jenseits dieser Feiern, Feste, dieser Tag- und Nachtfeuerwerke, mutig und offen ins Gesicht einer anderen Jugend zu sehen; die bereit ist, Ihnen zu begegnen; die nur eines mit Recht verlangt: so genommen zu werden, wie sie ist: mit ihrer Auffassung von Freiheit, Freude, Zukunft.

In diesem Sinne grüße ich Sie!

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