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Wodka und Absinth (II)

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Vor fast einem halben Jahrhundert brach das Zarenreich zusammen. Alexander Kerenski übernahm die Macht. Dann kam Lenin. Vor seiner Roten Armee flüchteten die Angehörigen der russischen Oberschicht in alle Welt. Tausende Emigranten kamen als „Schützlinge des Völkerbundes“ nach Paris. Viele von ihnen, insbesondere die geflüchteten Schriftsteller, Schauspieler, Tänzer, Ballettmeister und Maler, fanden in Frankreich einen vorbereiteten Boden. Der große Diaghilew hatte den Weg geebnet.

Es ist gewiß nicht übertrieben, zu behaupten, daß das Wirken Diag-hilews auf Jahrzehnte hinaus ein positives Vorurteil gegenüber jedem russischen Kunstausdruck in Frankreich begründet hat, das auch geringeren Kategorien unter den Schaffenden zugute kommt.

Diese Aufgeschlossenheit und freundliche Disposition gegenüber dem russischen Geist und der russischen Seele dürfte den Umstand erklären, daß die ins Scheinwerfer-licht der Öffentlichkeit gerückten Söhne und Enkel der Emigranten, die in der Regel die französische Staatsangehörigkeit angenommen haben, nicht nur ihre Herkunft keineswegs zu verbergen suchen, sondern sie meist stolz betonen.

Im Laufe einer in vielen Monaten durchgeführten Untersuchung, auf die sich dieser Bericht stützt, sind wir nur drei Persönlichkeiten begegnet, einem Universitätsprofessor, einem pensionierten General, der lange in französischen Diensten gestanden ist, und • einem bekannten Fernsehreporter, die uns versicherten, keine inneren Bindungen mehr zum Russentum zu haben und restlos im französischen Denken und Fühlen aufgegangen zu sein.

Alle anderen, auch die weltbekannten Schriftsteller Joseph Kessel und Henri Troyat, die als Mitglieder der Academie Francaise in den Kreis der Unsterblichen Frankreichs aufgenommen wurden, sehen in ihren russischen Vorfahren die entscheidende Quelle ihrer schöpferischen Eigenart.

Selbst die Jüngeren unter ihnen, die Rußland nur noch aus dunkler Erinnerung oder aus den Berichten ihrer Eltern kennen, tragen ungeachtet aller Milieueinwirkungen der westlichen Welt ein gutes Teil des russischen Erbes in sich und lassen es in ihren Werken reflektieren.

Für den Kenner und Bewunderer der strengen französischen Formkultur, die durch den Rahmen — Fassung und Abstand, Begreifen und Umgreifen — ihren symbolhaften Ausdruck findet, erscheint es kaum faßbar, daß sie sich mit den chaotischen Urgründen der russischen Seele, den melancholisch-endlosen Weiten der Steppe und dem quälenden Zwielicht halbheller Petersburger Frühlingsnächte Dostojewskis jemals abfinden könnte.

Und doch wurde das Unvorstellbare Wirklichkeit: Die befruchtende Einflußnahme der Russen auf das geistige Frankreich ist nicht allein in der Literatur unverkennbar. Man wurde sich ihrer bereits zu Beginn des Jahrhunderts bewußt, als die Musik Ravels und Debussys ihre deutliche Prägung von Mussorgsky erfuhr.

Späte Triumphe

Später vermochten die in Frankreich unvergessenen George und Ludmilla Pitoeff durch ihre eigenwillige Tschechow-Interpretation eine Revolution der französischen Bühne auszulösen und den Grundstein für das moderne Theater überhaupt zu legen.

Noch heute, 50 Jahre danach, feiert ihr Sohn Sascha mit seiner französischen Frau Triumphe auf ihrer Pariser Bühne in der „Möve“, den „Drei Schwestern“ und in „Onkel Wanja“.

Henri Troyat, dessen kürzlich erschienenes, umfangreiches Werk über den „Riesen Tolstoi“ großes Aufsehen in literarischen Kreisen Frankreichs ausgelöst hat, gab uns im Rahmen eines langen Gesprächs eine anschauliche Darstellung des Einflusses Dostojewskis, Tolstois, Gogols und Tschechows auf die neuere französische Literatur.

Die Integrierung russischen Denkens in die Werke französischer Autoren habe sich, so sagte Troyat, fast unbewußt vollzogen. Unschätzbar sei dabei die Rolle der Emigranten gewesen, die durch zuverlässige Übersetzungen und Textinterpretationen den Brückenschlag von der östlichen zur westlichen Mentalität geschlagen hätten.

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