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Wodka und Absinth (in)

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Die „Weißen Wogen“ des Zarengenerals Koltschak hatten den «Roten Brand“ Lenins nicht löschen können. Tausende Exilrussen, der tödlichen Gefahr entronnen, die sie In ihrem Vaterland bedrohte, fanden In Paris ihre zweite Heimat. Heute wird in Emigrantenkreisen die Frage aufgeworfen, ob dem russischen Einfluß auf die französische Kultur oder den Einwirkungen des französischen Geistes auf das künstlerische Wirken der Flüchtlinge aus dem Osten und ihrer Nachfahren größere Bedeutung zukomme.

Diese Überlegung erscheint uns ebenso müßig wie das Problem, ob dem Huhn oder dem Ei die zeitliche Priorität gebühre, weil das eine ohne das andere nicht vorstellbar ist.

So eminent auch die schöpferische Leistung der Gäste in viereinhalb Jahrzehnten fraglos war, sie wäre ohne die sie umgebende Atmosphäre der Freizügigkeit und ohne die Existenz einer eigenen zivilisatorischen Tradition des Gastlandes unmöglich gewesen.

Freilich waren der russischen Kulturexpansion in Frankreich von Anfang an gewisse Grenzen gesetzt, denen sich die Arrivierten unter den aus dem Osten kommenden Schriftstellern und Künstlern oft nicht ohne innere Konflikte zu beugen verstanden: Es waren nicht Grenzen, die von einer omnipotenten Staatsautorität gesetzt werden, sondern ungeschriebene und allen Modeeinflüssen standhaltende Gesetze des bürgerlichen Geschmacks.

Die Tänzerin Ludmilla Tscherina, die auf den Brettern der Pariser Oper in der Schule Serge Lifars groß wurde, sieht in den geschmacklichen Fesseln öin schwerwiegendes Hemmnis für die künstlerische Entwicklung. Sie gab ihrem Standpunkt in der folgenden Weise Ausdruck:

„Auf der einen Seite ist dank der Initiative und des Genius Serge Lifars Paris mehrere Jahrzehnte der Mittelpunkt für das Ballett in der westlichen Welt gewesen. Auf der anderen Seite kann nicht verschwiegen werden, daß der ,esprit car-tesien' der Franzosen und die spießige Mentalität ihrer Massen den Bühnentanz immer nur einer relativ kleinen Oberschicht zugänglich machen konnten. Im Gegensatz zu Deutschland hatten hervorragende Tanjzfilme wie .Hoffmanns Erzählungen' und ,Die roten Schuhe' in Frankreich keinen großen Erfolg.“

„Spießige“ Züge?

„Was jedoch für das Ballett gilt“, eagt die Tscherina weiter, „ist in Frankreich auch in anderen Kunstbereichen gültig. Bleiben wir einmal beim Film: Ist es Ihnen niemals aufgefallen, daß hier alle Schauspieler und Schauspielerinnen der ersten Erfolgskategorie unverkennbar spießige Züge tragen? Eine wirkliche ,Vedette' von der Art Robert Taylors, Gary Grants oder Gary Coopens würde niemals den Wünschen des französischen Publikums entsprechen. Wenn wir von Brigitte Bardot absehen wollen, deren Erfolg im eigenwilligen Sex und nicht in der schauspielerischen Leistung beruht, so bleibt das französische Kino klambürgerinnenbeherirscht. Es gibt überhaupt keinen ,Typ in diesem Lande, so wie sie anderen Ländern eigen sind. Selbst eine Marylin Monroe war ein Typ, mag er auch als noch so gekünstelt empfunden werden.“

Und weiter: „Eine Greta Garbo vermag die Franzosen nicht mitzureißen; sie erscheint dem Bürger als zu hoch, zu majestätisch, zu unerreichbar. Er kann es sich nicht vorstellen, sie seiner Intimsphäre anzupassen, sie in den Arm nehmen zu können...“

Das Urteil Ludmilla Tscherinas über die hemmenden Elemente des bourgeoisen Geschmacks für die Entwicklung des Künstlers, der auf den Erfolg bei der breiten Masse angewiesen ist, also vor allem im Bereich des Films, der Bühne und des Tanzes, wurde von vielen unserer Gesprächspartner geteilt. Aber es wurde fast immer betont, daß die hie und da auftretende Behinderung des Genius, des avantgardistischen Wagnisses, des geistigen Höhenflugs schließlich bei geeensei-tigem Entgegenkommen durch eine annehmbare Synthese kompensiert wurde.

Die Filmschauspielerin Odile Ver-sois und ihre versonnen-geheimnisvoll wirkende Schwester Marina Vlady sind Töchter eines genialen Vaters, der auf geistigem Gebiet russische und französische Elemente in sich zu vereinigen suchte. Sie wirken im Film und auf der Bühne so französisch, daß nur Eingeweihte von ihrer slawischen Herkunft wissen; und doch sprechen sie untereinander und mit ihrer Mutter russisch und legen Wert darauf, daß ihre Kinder neben der französischen auch die Sprache ihrer Vorfahren erlernen.

Kaum jemand weiß, daß international bekannte Exponenten des französischem Films, wie Roger Vadim (Plimiannikow) und Jacques Tati, der Universalschöpfer des modernen Chansons Charles Azna-vour, der Wissenschaftler und Schriftsteller Jacques Bergder und die mit Aragon verheiratete Dichterin Elsa Triolet, russischen Emigrantenfamilien entstammen.

Die meisten von ihnen gestehen der neuen Heimat den Löwenanteil ihrer Prägung zu. Dies gilt auch für die bildenden Künste.

Der 1906 in Moskau geborene und 1923 nach Paris gekommene abstrakte Maler Serge Poliakoff hat uns die Beziehungen zwischen französischen und russischen Elementen so formuliert: „Auf den fruchtbaren Humusboden der russischen Seele fällt der Same des französischen Geisteseinflusses, und unbewußt beginnt der Künstler französisch zu denkein, französisch zu zählen und französisch zu handeln. Milieueinflüsse machen ihn schließlich völlig zum Franzosen, ohne daß

er deshalb die charakteristischen Eigenschaften seiner Herkunft verlieren könnte.“

Diese Bindungen werden Poliakoff vom Direktor des Pairiser NaMonal-museums Jean Cassou, bestätigt. Er schreibt über den Künstler: „Was bei Poliakoff wesentlich ist, was aus dem Lebenskern seiner Person und seiner Kunst hervorleuchtet, das ist ein unabhängiger, innerlich geschlossener, tief musikalischer und tief menschlicher Russe.“

Vielleicht ist die märchenhafte Karriere des Malers symbolhaft für die Möglichkeiten, die die französisch-russische Synthese einem wirklich begnadeten Künstler eröffnet, wenn auch selbst in Paris der Götterpreis dem genialen Schöpfer nicht in den Schoß zu fallen pflegt.

Viele Jahre war Poliakoff gezwungen, mit einer Gitarre vagabundierend durch die Lande zu ziehen, ehe er sich zu malen entschloß und nach anregenden Begegnungen mit seinem Landsmann Kandinsky die Entwicklung zum abstrakten Koloristen nahm.

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