Schnuppern in fremdes Leben

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Ob über Adolf Hitler oder andere (dunkle) Größen der Geschichte: Biographien sind am Film- und Buchmarkt en vogue. Das neue Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie nimmt diese Gattung unter die Lupe.

Der alte, müde Mann mit dem zerknautschten Gesicht tätschelt der Sekretärin verständnisvoll die Wange: "Das wird schon werden", meint er väterlich, während sich die nervöse Traudl Junge für ihre 20, 30 Tippfehler in Grund und Boden schämt.

So nett und fürsorglich konnte er also sein: Adolf Hitler. So nett und fürsorglich verkörpert ihn zumindest Bruno Ganz. In Oliver Hirschbiegels Film "Der Untergang" mimt der Ifflandring-Träger den Führer, wie er später in seinem Bunker - umgeben von der Schreibkraft Traudl Junge, seiner Eva Braun und getreuen Gefährten wie Albert Speer - auf die Ruinen seines Lebenswerkes blickt. Hirschbiegels Opus, das kommenden Sonntag in der Kategorie "Bester nicht-englischsprachiger Film" in Los Angeles um den Oscar buhlt, macht es möglich: Hitler, der Massenmörder - auch nur ein Mensch wie du und ich.

Vermenschlichter Dämon

Ist ein solcher vermenschlichender, "entmystifizierender" Zugang, wie ihn Produzent Bernd Eichinger und Regisseur Oliver Hirschbiegel für den "Untergang" gewählt haben, legitim? Wilhelm Hemecker, Germanist am Österreichischen Literaturarchiv der Nationalbibliothek und Koordinator des neuen Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie in Wien, ortet hier die Gefahr einer "Vermenschlichung politischer Dimensionen": "Auf einmal empfinden wir eine Persönlichkeit wie Hitler als tragisch. Doch was sie angerichtet hat, bleibt in der Nahperspektive der Kamera ausgeblendet."

Dass die Faszination der Figur Adolf Hitler - 60 Jahre nach dem Untergang seines "Dritten Reiches" und seiner selbst - ungebrochen ist, hat für Hemecker freilich einen plausiblen Grund: "Die Götter von gestern leben als Dämonen fort, sie behalten ihre Faszination, die sie einmal positiv hatten, in einer dunklen, negativen Weise weiter." Kein Wunder also, dass Bücher und Filme über den Braunauer boomen. Doch nicht nur sie: Generell habe die Gattung Biographie auf dem Film- und Buchmarkt Hochkonjunktur, weiß Germanist Hemecker. Die Hintergründe für dieses steigende Interesse an fremdem Leben versucht nun ab April das von ihm koordinierte Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie zu klären - eine von sechs Einrichtungen, die im Rahmen der Umorganisation der Ludwig Boltzmann Gesellschaft neu geschaffen worden sind (siehe unten).

Neben einer historischen Aufarbeitung der Gattung - ausgehend vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart - soll vor allem eine grundlegende Theorie der Biographie erarbeitet werden. "Es gibt erste Stimmen, dass die Biographie eine Gattung der Krise wäre, dass man sich also - etwa aus bürgerlicher Perspektive - in das Leben berühmter Menschen flüchtet und die realen Verhältnisse sowie den Zusammenbruch der Ordnungen wegschiebt", meint Bernhard Fetz vom Österreichischen Literaturarchiv, der neben Hemecker und der Literaturwissenschafterin Daniela Strigl als einer von drei hauptverantwortlichen Forschern - und rund zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - am neuen Institut tätig ist.

Zusätzlich zur historischen und theoretischen Reflexion sollen auch - in Kooperation mit der Österreichischen Nationalbibliothek, dem Jüdischen Museum Wien, der Thomas Bernhard Privat-Stiftung und dem Institut für Germanistik der Universität Wien - umfangreiche Biographien zu bedeutenden Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts erarbeitet werden: zu Hugo von Hofmannsthal, Ernst Jandl und Thomas Bernhard. Welche Literatin biographiert werden soll, ist noch Gegenstand von Verhandlungen. Nicht zuletzt sollen auch die Lebensgeschichten religiöser Gründergestalten und ihre Bedeutung für das Selbstverständnis der Weltreligionen untersucht werden, stellt der Germanist und Theologe Hemecker in Aussicht.

Vita nach Modell

Ob der Prophet Mohammed oder Thomas Bernhard - im Zentrum des Forschungsinteresses stehen jedenfalls Modellbiographien. "Über große Biographien wird ja viel kulturelles Wissen über Männer-, Frauen- und Gesellschaftsbilder vermittelt", erklärt Hemecker im Furche-Gespräch. "Biographien sind Träger von Ideologien oder auch Ideen, wie idealtypisches Leben ausschauen könnte: gelungenes oder misslungenes."

Wie hingegen vergleichsweise durchschnittliches, durchwachsenes Leben aussieht, offenbart das "Österreichische Biographische Lexikon". Die mit mehr als 16.000 Einträgen größte österreichische Biographie-Datenbank, die seit Anfang Februar im Internet verfügbar ist (eine Abfrage in Kurzform ist unter www.biographien.ac.at kostenfrei möglich, das Lesen der Vollversion kostet 39 Euro jährlich), hat ihr Augenmerk dezidiert auf die Menschen "in der zweiten und dritten Reihe" gerichtet. "Wir sind kein Elite-Lexikon", betont Helmuth Grössing, Leiter des seit 1946 an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften beheimateten Instituts "Österreichisches Biographisches Lexikon". Die tausenden Biographien von Persönlichkeiten, die innerhalb der politischen Grenzen Österreichs gelebt haben und zwischen 1815 und 1950 gestorben sind, umfassen mittlerweile in gedruckter Version zehn Bände. Bis 2015 sollen die geplanten 15 Bände fertig sein.

Zwischen "A" und "Slavic" tummeln sich allerhand kuriose Lebensgeschichten. Zum Beispiel jene von Franz Maier, geboren 1851 in Tulln, gestorben 1928 in Wien. Sohn eines Kürschnermeisters, Sängerknabe im Benediktinerstift Göttweig - dortselbst wegen Talentlosigkeit entlassen. Als 15-Jähriger trat er erfolglos in einer Posse auf, als 25-Jähriger nahm ihn der Volkssänger Reder gegen eine Tagesgage von zwei Gulden in seine Gesellschaft auf und schrieb für ihn die Soloszene "Mir geht's schlecht", die 40 Jahre zu seinem Repertoire gehörte.

Nicht eben eine Vita, die man verfilmen würde. Und doch markant und skurril genug, um in Stichworten verewigt zu sein.

Ausgesparte Frauen

Viele Frauen hatten nicht so viel Glück. Nur fünf Prozent der Lebensläufe, wie man sie im "Österreichischen Biographischen Lexikon" findet, sind jene von Frauen. Um diese Lücke zu schließen, wurde 1997 das Projekt "biografiA. Biografische Datenbank und Lexikon österreichischer Frauen" ins Leben gerufen, das am Institut für Wissenschaft und Kunst (iwk) angesiedelt ist. Mittlerweile sind dort 10.500 biographische Datensätze verzeichnet. Die Liste der aufgenommenen Frauen ist unter www.biografia.at einzusehen. "Wir haben vor allem versucht, den weiblichen Lebenslauf in der Dokumentationsarbeit sichtbar zu machen", erzählt die Verantwortliche für das Projekt und Leiterin der Dokumentationsstelle Frauenforschung Ilse Korotin. So werde etwa besonderes Augenmerk auf eine adäquate Erfassung möglicher Namensänderungen gelegt.

Auch "biografiA" hat sich nicht an der vermeintlichen Elite ausgerichtet - wohl aber an Schwerpunkten: Im Zentrum stehen etwa jene Frauen, die als Verfolgte oder Widerstandskämpferinnen unter dem Nazi-Terror zu leiden hatten.

Unter der Herrschaft eines Mannes also, der - laut Oliver Hirschbiegel - wohl ein Massenmörder war. Doch zwischendurch ein Mensch wie du und ich.

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