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Gegenwartstheater in Berlin

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Man mag die West-Berliner Bühnen allgemein die Vorposten des freien Theaters nennen, man mag die Berliner Festwochen im besonderen als Ausdruck ungebrochenen Lebensgeistes werten — all das sind schöne Worte, melodramatische Umschreibungen, wohlklingende Paraphrasierung für ein nüchternes, höchst realistisches Notstandsprogramm einer in Schutt und Asche versunkenen Metropole, deren Tradition und Glanz in nicht wiederaufzubauenden Ruinen liegt.

Man spielt in Berlin mit Leidenschaft Theater, weil die Dramatik den Berlinern stets ein Anliegen war — aber auch deshalb, weil die. Musen zerstört und die steinernen Kulturdenkmäler ein für allemal verloren sind und das Theater am leichtesten aufzubauen war. Man spielt mit Inbrunst neues, heutiges Theater, weil die Berliner seit jeher dem Neuen zugetan waren — aber auch deshalb, weil West-Berlin eine neue, ausschließlich dem Heute lebende Stadt ist: ein gigantischer Bauplatz auf toten Fundamenten. Und man spielt hartes, packendes Theater, weil der Frieden in Berlin so trügerisch und das Leben hart ist, und — nolens volens packend auf dieser bedrängten vulkanischen Insel wider Willen.

Berlin spielt Gegenwartstheater. Als Folge dessen hat der zehntägige Zaungast der Festspiele seine Not, um zu allen Erst- und Uraufführungen zurechtzukommen : ins Schloßpark-Theater zu dem glänzenden „Entertainer“ von lohn Osborne, zu „Impromptu“ und dem „Apollo von Bellac“ von Giraudoux, zu Theodor Schübeis „Der Kürassier Sebastian und sein Sohn“; zu Wolfgang Schadewaldts Neubearbeitung der Aristophanischen „Lysistrata“ in der (enttäuschenden) Inszenierung Rudolf Sellners ins Hebbel-Theater; zu den deutschen Erstaufführungen von Ionescos „laques oder sich fügen“ und von I. H. Herlihys „Blue leans“ in die Tribüne; zu der packenden Barlog-Inszenierung von Thomas Wolfes „Schau heimwärts, Engel“ in das elegante Schiller-Theater.

Acht Stücke in rasantem Wettlauf, die meisten sind in Berlin wie sonst kaum anderswo von gleicher Intensität, Ausdruckskraft und Beklemmnis unserer Tage beherrscht. Von Osbornes düsterer, kabarettistischer Montage aus dem Sumpf des menschlichen Versagens, dieses zornigen Musicals des Elends und des Ueberdrusses, der schonungslosen Dreigroschenoperette über Ionescos Masken, Groteskchoreographie, monotonen, nervenfeindlichen Singsang, haarsträubenden Unsinn und gleißenden Widersinn als verzerrte Spiegelung des Lebens der Oede und der Leere, der Fremdheit und Stupidität zu Thomas Wolfes puritanischem Miserere und trauerumflorter Poesie der Bitternis und Hoffnungslosigkeit im „Schöße“ einer Kleinstadtfamilie aus dem Lande der unbegrenzten Möglichkeiten für alle Arten seelischen Unbehagens. — Acht Stücke, fast ausnahmslos vorzügliche, glasklare, präzise Inszenierungen in erstrangigen Besetzungen: Martin Held („The Entertainer“), Berta Drews, Gisela Troowe, Alfred Schieske, Lucie Mannheim, Johanna von Koczian.

Berlin spielt am besten sachliches Theater. Daher wohl — nicht als alltägliche Regel, nur als Beispiel sei es erwähnt — das unerwartete Versagen bei Shakespeares „Sturm“ im Theater am Kurfürstendamm. Statt eines Zauberspiels gibt es einen schwerfälligen, äußerlichen Bühnenspektakel bei mißglückter „Komödiantik“. Aller Zauber, alle Poesie ist weggeblasen, von einem flachen, platten Sturm, an dem zwar infolge vieler Striche einige Kürze, aber kein Hauch von Würze ist. Dazu kommen eine unzureichende Besetzung, unschöne Kostüme, schlechte Bühnenbilder. (Unvergleichlich erfolgreicher dagegen ein Gastspielensemble der Städtischen Bühnen Frankfurt im Hebbel-Theater, das bei Lord Byrons „Kain“ zeigte, was das deutsche Schauspiel vermag, wenn sich Präzision und karge Schlichtheit an einem kalten, dialektischen Raumspiel übt.)

Berlin spielt vitales, interessantes, aufgeschlossenes, erregendes Theater. Wenn Boleslaw Barlog ein Zeitstück inszeniert, ist man beklommen, wenn Hermann Herrey in der Tribüne einen modernen Schockfranzosen aufführt, trifft's den Nerv. Die Bedeutung der Festwochen in Berlin ragt über die Qualität und über die Fragen der Gültigkeit des einzelnen hinaus: von hier aus strahlen Impulse, verbreitet sich das Neue, zünden Experiment und Ambition.

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