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Als Görz noch österreichisch war

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Für den Bücherfreund erscheint es immer aufs neue bemerkenswert, das so überaus reichhaltige Angebot der verschiedensten Sparten der Literatur in den italienischen Buchhandlungen zu gustieren, welches das des deutschsprachigen Raumes bei weitem übersteigt. Vom simplen Comic-Kinderbuch über die Unzahl der Taschenbücher, von der — zumeist angesichts der hervorragenden Ausstattung erstaunlich billigen — Fachenzyklopädie bis zur kaum überschaubaren Fülle von (zumeist politischen) Bestsellern präsentieren sich die bunten Schaufenster der überraschend vielen Librerien, denen man in den Städten des nördlichen Italien begegnet. Einen großen, für uns ungewohnten reichhaltigen Platz nimmt der historische Roman, die national-historische Untersuchung ein, die von ökonomisch-soziologischen Expertisen bis zu umfassenden Geschichtsstudien der jüngsten Vergangenheit wohl kein Gebiet des italienischen Lebensraumes ausläßt. Besonders im Norden, vornehmlich in den Provinzen Gorizia und Tri-este, ehemaligen Teilen der österreichisch-ungarischen Monarchie, hat die Geschichtsforschung in der Literatur großen Platz gefunden, deren vergleichende Betrachtungen Österreichs Verleger wie Leser beschämen müssen.

Unter all diesen forschenden, erklärenden oder erzählenden Studien fällt besonders ein Werk auf, das — entgegen den gewöhnlich überaus effektvoll-bunten Umschlägen und auf sich aufmerksam machenden Photomontagen — durch schlichte Bescheidenheit und dezent-geschmackvolle Unauffälligkeit inmitten der anderen, weitaus prunkvolleren Bände den Blick auf sich zieht: „Memorie e cronache del Friuli Orientale 1890—1920“ von Carlo Luigi Bozzi.

Wer den östlichen Norden Italiens liebt, auf oftmaligen Reisen den Charakter dieser keineswegs südlich-heiteren, sondern eher herben und kargen Landschaft und ihrer Bewohner zu ergründen und verstehen sucht, darf an diesem Buch nicht vorübergehen. Waren doch vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert die „Gefürsteten Grafschaften Görz und Gradiska“ Teile der österreichischen Monarchie, verbinden doch diese mit fruchtbaren Obstgärten. Maisfeldern und herb-köstlichen Weinsorten gesegneten Landstriche heute noch mehr als freundschaftliche Beziehungen mit Österreich — es sind familiäre Bande, die zwar durch Kriege und mehrfache Grenzziehungen getrennt, jedoch nicht zerrissen werden konnten. Noch immer wird der Gast aus dem nahen Norden freundlich in der eigenen Landessprache begrüßt, noch immer werden die Kontakte leichter, die Herzen offener, kommt man aus Österreich, dem einstigen Mutterland. Und viele der herzlichen Menschen, verständlich einer älteren Generation angehörend, beginnen von ihren Erinnerungen zu erzählen, als sie noch Soldaten waren — in österreichischen Uniformen ...

Über diese Zeiten berichten auch Professor Bozzis „Erinnerungen und

Chronik“; sie erzählen von den letzten 30 Jahren der österreichischen Oberhoheit in Ostfriaul — und er ist wohl wie kaum ein zweiter dazu berufen, sie heraufzubeschwören.

Dieser bedeutende Historiker alt-österreichischer Herkunft, ein wahrer „Edelmann“', dessen Würde und Noblesse, verbunden mit italienischer Grandezza und Temperament, jene glücklich-stolze Mischung eines wahrhaften Europäers uralter Kultur und Zivilisation darstellt, als deren Schmelztopf die Donaumonarchie gewirkt zu haben ihre vielleicht bedeutsamste Spur in der Geschichte hinterlassen wird, kann wohl als die größte Autorität auf dem Gebiet der Geschichtsforschung seines engeren Heimatgebietes gelten. Die Geschichte, die er beschreibt und mit scharfem Verstand und wissenschaftlicher Akribie nicht nur aufzeichnet, sondern lebendig macht, hat er selbst erlebt, es ist die niedergelegte Geschichte seines eigenen Lebens; doch mehr, als daß er nur Zusammen-nänge erkennen ließe und hinter den Fakten die Ursachen bloßlegt — was seine Schilderung von Gorizia, dem Görz der Jahrhundertwende so überaus nahe bringt, so leicht erfaßlich und aufschlußreich macht, ist Bozzis kraftvoll-lebendiger Stil, oft gewürzt mit Anekdoten und realistischen Details, die sich einer exakt erforschten Geschichtsschreibung zuordnen und die trocken-wissenschaftliche Materie fast zu einem spannenden Roman, einer Zeitschilderung formen, einem Buch, das man kaum aus der Hand legen kann, bevor man es nicht bis zur letzten Seite gelesen hat.

Mit der letzten Reise des greisen Kaisers nach Görz beginnend, erzählt die 210 Seiten umfassende, in elf Kapitel gegliederte und mit zahlreichen ausgewählten zeitgenössischen Photographien versehene Chronik vom Leben im alten Görz, einst das „österreichische Nizza“ genannt, von der Eisenbahnverbindung zwischen Wien und Triest, der Lebensader, vom kulturellen und geistigen Leben, dem einstigen „k. u. k. Unter- und Obergymnasium“, dem Schulverein, dem „Deutschbund“, ja sogar einer Sektion „Schlaraffla“ von Klagenfurt — ebenso wie von den Museen, dem Stadttheater und den beiden „Kine-matrographentheatern“ in der Urzeit des Kinos, aber auch von den Persönlichkeiten, die in Görz wirkten, dem Geschichtsschreiber Baron Karl Czörnig und den Schriftstellern Maria von Egger-Schmitzhausen und Otto Leitgeb — aber sie verschweigt auch nicht die nationalpolitischen Spannungen und Differenzen, die — objektiv und sachlich, ohne Ressentiment oder Pathos geschildert — von der noblen und wissenschaftlichen Gesinnung des Autors Zeugnis ablegen.

Mit diesem Buch, das nicht nur wert wäre, in deutschsprachiger Ubersetzung zu erscheinen, sondern darüber hinaus ein für die österreichische Geschichtsschreibung

überaus wichtiges Quellenmaterial zu liefern imstande ist, grüßt den nach Italien reisenden Österreicher ein Geist, der von völkerverbindender Kulturgröße und Humanismus zeugt, der das beglückende Gefühl vermittelt, im Wiedersehen mit den nördlichen Teilen Italiens die Verbindung mit den Werten des Lebens zu finden.

MEMORIE E CRONACHE DEL FRIUILI ORIENTIALE 1890—1920. Von Carlo Luigi Bozzi. Societä Filologica Friulana, Veline 1971. 210 Seiten, 30 Abbildungen.

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