Die Bewunderung des Drachen ist dem Menschen eingeschrieben. Das ist durchaus wörtlich gemeint: Das Buchangebot zum Thema vermehrt sich geradezu ungeheuer. Früher – also etwa zu Siegfrieds Nibelungenzeiten – war noch das Blutbad am Drachen sehr beliebt, quasi als das Ende vom Heldenlied. Die Autoren jüngerer Zeiten lassen das Tier dagegen gerne am Leben und selber Helden sein. Fuchur, Saphira, Ohnezahn – allenthalben fleuchen sie durch die Welt der Fantasy – und zu Millionenumsätzen. Den noch lebenden Vorbildern der Drachen (vom Krokodil bis zum Waran) blüht hingegen statt Ruhm und Glück oft die Ausrottung.
So auch dem Grottenolm, seines Zeichens ein echtes Lindwürmchen, das in den Höhlen Dalmatiens lebt und von den Bewohnern dieser Region seiner geringen Körpermaße, seiner blassen Farbe und seiner zarten Gliedmaßen wegen „Drachenkind“ genannt wird. Diese Lurche sind aber nicht nur ihres seltsamen Aussehens wegen auffällig oder aufgrund ihrer Existenz in blanker Finsternis. Der „Proteus anguinus“ ist vor allem der perfekte Nischenbewohner. Grottenolme haben sich an eine klimatisch einzigartige, eigentlich lebensfeindliche Umgebung angepasst. Das hat ihnen relative Freiheit von Feinden und Unabhängigkeit von den meisten Umweltstörungen eingebracht.
Wenn man diese Lebensweise aus dem Olmischen heraushebt und ökonomisch und menschlich einkleidet, ergibt sich ein ganz neues Bild. Da zeigt sich, dass viele von uns, je länger wir leben, eine Sehnsucht nach einer uns entsprechenden Nische entwickeln, in der wir uns, ein jeder nach seinen Möglichkeiten, entwickeln könnten. Dass wir uns aber in einer Realität wiederfinden, in der wir als Arbeitende, aber auch als Konsumenten zu Tausenden über einen Leisten geschoren (oder gedroschen) werden, bis wir in vorgegebene Berufsbilder und vorgeprägte Strukturen der Existenz passen.
Dieser Zwang zur Homogenität hat uns auch zu idealen Opfern des Massenkonsums und einer Massenmedialität gemacht, die uns diese monotonen Lebensvorstellungen als Ideale verkauft. Angesichts des Grottenolms kann man sich aber fragen, ob nicht die Welt ein besserer Ort wäre, wenn sich ein jeder seine entsprechende Nische schaffen könnte. Wenn man sich seiner Natur und seinen Wünschen nach entwickeln könnte. Wenn nicht jede und jeder durch gleichgemachte Zielvorstellungen in Job und Karriere der Wettbewerbsfeind eines/einer anderen wäre. Um wie viel bunter, zufriedener, gelassener wäre dieser Ort? Individuelle Nischen würden aus der kargen Steppe möglicher Lebenswege einen blühenden Garten machen. Und das alles könnte man sich abschauen, wenn man dorthin geht, wo nichts mehr wächst außer Kleinstlebewesen und „Drachenkindern“, die man nach einer alten Sage auch „Menschenfischlein“ nannte.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!