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Brot und Bücher

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Der Hunger wächst in weiten Gebieten der Welt - Hunger nach Brot und Bildung. In anderen Gebieten, im „Westen“, wächst die Gier nach Süßigkeiten und Abwechslung. Wie notwendig wäre es, klare Begriffe zu haben und anzuwenden - dann erst könnte vom „Westen“ echte Hilfe kommen, könnte die Lösung der Probleme der Dritten Welt vorbereitet werden.

Zum Thema „Brot“ haben große Dichter einiges gesagt. Dostojewski etwa in seiner Parabel vom „Großinquisitor“, wenn er vielschichtig, hintergründig von der „Versuchung“ des Brotes, der Macht, des Wunders spricht. Mil-ton auch im „Wiedergewonnenen Paradies“, wenn er als Puritaner die biblische Szene von der Versuchung in der Wüste erklärt. Das Evangelium selbst berichtet diese Szene, aber auch vom Erbarmen Christi, der die Hungernden und Leidenden und Kranken sieht und sich ihrer annimmt. Doch scheint mir ein großer Schriftsteller zu Unrecht unbekannt zu sein, der - als Sozialist und Atheist damals - einige Punkte zum Thema „Brot“ mit unvergleichbarer Klarheit herausstellte, Charles Peguy (1873-1914).

Sohn einer armen Witwe, hebte er die französische Provinz, ihre Armut und ihre Arbeitsamkeit, ihre Kornfelder und Weingärten. Wie St. Exuperys „Kleiner Prinz“ konnte er die Dinge der Welt mit dem Herzen sehen. Er war einer jener Franzosen, die mit äußerster Klarheit und mit unbestechlichem Sinn für das Reale träumten.

Es wird berichtet, daß er am Lycee Sainte-Barbe in Paris, wo er sich auf den Lehrberuf vorbereitete, vor den schriftlichen Arbeiten das Thema durchlas, dann seinen Nachbarn bat, ihn in einer halben Stunde zu wecken, und diese halbe Stunde fest schlief. Die Aufsätze waren immer fehlerlos und hatten die besten Noten.

Eine Art traumhafter Sicherheit formte, so scheint es, auch seine Gedanken über Armut und Elend, niedergelegt in dem Aufsatz „De Jean Coste“ in seinen „Cahiers de la Quinzaines“ (1902). Sie sind, scharf zusammengefaßt, folgende:

• Man verwechselt fast immer das Elend mit der Armut; die Verwechslung kommt daher, daß Elend und Armut benachbart sind; aber sie hegen auf zwei Seiten einer Grenze. Peguy ist überzeugt, daß viele wirtschaftliche, soziale, moralische und sogar politische Probleme klarer erfaßbar seien, wenn man diese Grenze theoretisch und praktisch anerkennen wollte. Es besteht also eine Verschiedenheit - der Qualität nach - zwischen Armut und Elend.

• Aus diesem qualitativen Unterschied heraus ergeben sich Konsequenzen, die für den jungen Peguy mit seinen Ideen von der harmonischen Stadt auch persönlich relevant wurden „... solange die Elenden nicht aus ihrem Elend herausgeholt sind, stellen sich gar keine Probleme der Stadt. Die Elenden aus ihrem Elend herauszuholen, ohne eine einzige Ausnahme, das bildet die soziale Pflicht, vor deren Erfüllung man überhaupt nicht untersuchen kann, welche die erste soziale Pflicht sei.“

Und noch schärfer: „... solange es einen Menschen draußen gibt, so lange schließt die Tür, die ihm vor der Nase zugeschlagen wird, eine Stadt der Ungerechtigkeit und des Hasses ab.“ Solange es

Elendsviertel gibt, gibt es vorerst keine Diskussion über die harmonische Stadt.

• Dieser unbedingte Vorrang des Problems des Elends des Menschen läßt das Problem der Armut als zweitrangig erscheinen: „Das Problem des Elends ist nicht auf derselben Ebene, ist nicht von der gleichen Ordnung wie das Problem der Ungleichheit'. Bei jenem findet man noch die alten Sehnsüchte, die traditionellen Sehnsüchte, die ... viel tiefer, viel berechtigter, viel wahrer sind als die neuen und fast immer künstlichen Erscheinungen der Demokratie.“

Und konkreter:.....wenn jeder

Mensch mit dem Notwendigsten versorgt ist, also mit Nahrung an %föt fand an Büch, was schert uns die Verteilung des Luxus? Was schert uns, wahrhaftig, die Verteilung von Autos mit 250 PS, wenn es so etwas geben sollte?“

„Nahrung an Brot und an Buch“, „du pain et du livre“, das ist ein Ausdruck, der in seiner grammatikalischen Härte etwa das wiedergibt, was das Evangelium sagt: „Nicht vom Brot allein ...“ Er ist typisch für den Sozialisten und Atheisten von damals, der ein Mystiker der Armut war. Sagt er doch im gleichen Atem: „Den meisten großen sozialistischen Theoretikern hat es gefehlt, daß sie arm waren.“ Hier wird auch das Entscheidende gesagt: Von dem großen Fanfaren-dreiklang der Französischen Revolution ist allein die Brüderlichkeit notwendig, Freiheit und Gleichheit klingen oft unrein. „Die englische Revolution, ebenso wie die amerikanische, hat nicht die Stadt vorbereitet, sondern nur demokratische Regierungen eingesetzt.“

Mit diesen drei Sätzen - daß Elend etwas qualitativ anderes ist als Armut, daß die Elenden aus ihrer „destitution“, aus ihrer Unter-Stellung, aus ihrer unter-menschiiehen Stellung herausgeholt, herausgerissen werden müssen, alle, ohne Ausnahme; und daß das Problem der Verteilung des Reichtums zweitrangig, wenn nicht unbedeutend ist -, hat Peguy Raum geschaffen für klare Erkenntnis und Willen der Gutgesinnten zum Handeln.

Was er noch an Tiefgründigem zum Verhalten jener sagt, die dem Elend entronnen sind, mag manche Erscheinungen des 20. Jahrhunderts erklären. Es verblaßt gegenüber dem Ernst der Aussage, daß ein einziger Mensch, bewußt im Elend gehalten oder, was auf dasselbe hinauskommt, bewußt im Elend gelassen, genügt, daß „der Gesellschaftsvertrag in seiner Gänze null und nichtig“ sei.

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